Irmchens Leben
Inhaltsverzeichnis |
Irmchen und Willi, um 1990 |
Seite | Thema | Jahr | ||
2 | Abschied | |||
3 | Der letzte Tag | 2009 | ||
4 | Oma schwebt | |||
5 | Das Vierte Gebot | |||
6 | Hochzeit - und etwas Stammbaum | 1942 | ||
7 | Jugendfreundschaften - ihr Zuhause | 1930f | ||
8 | Ausflug ins heutige Bunzlau | 2014 | ||
9 | Episoden | |||
10 | Das Erleiden der Schwangerschaft | |||
11 | ... und meine Geburt | 1942 | ||
12 | Weitere Episoden, Erinnerungen, Träume | |||
13 | Flucht vor der Front | 1945 | ||
14 | Aussiedlung - und Irmchens Coup | 1947 | ||
15 | Wenn der Teufel höhnisch lacht... | |||
16 | Flucht und glückliche Rückkehr | 1948 | ||
17 | Das neue Zuhause | 1949 | ||
18 | Willi von der Polizei | 1952 | ||
19 | Ost-West-Leben | |||
20 | Notbremse - trotzdem eine glückliche Zeit |
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Irmchens Wunsch
Das lange Warten
Das hier abgebildete Bildchen und die auf die Rückseite des Bildchens
geschriebenen Zeilen hat meine Mutter Ende 1962 an meine Großmutter geschickt..
Ich nenne es "Muttis Wunsch":
Von mir jetzt, in der Neuzeit, im April 2017, zufällig in einem Karton gefunden, acht Jahre nach
Irmchens Tod...
Ein kleines Stück Papier, das sie aus einem starken Gefühl heraus, spontan
bemalt hat... Meine Familie - das war damals meine Mutter, meine Großmutter und
ich. Ab heute, werde ich immer dieses Bild vor Augen haben, wenn ich an sie
denke...
Damals, 1962, stand seit anderthalb Jahren die Berliner Mauer... Meine Mutter
lebte in Westberlin, meine Oma in der DDR, in Röntgental bei Berlin. Und ich
war im DDR-Zuchthaus Bautzen. Am 13. August !961 war ich in Ostberlin verhaftet und wegen
"Staatsgefährdender Hetze" zu dreieinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt
worden, siehe meine Geschichte
Die letzte Hürde.
Der Wunsch meiner Mutter erfüllte sich nur zum Teil. 1963 wurde ich noch nicht
entlassen, aber immerhin - im August 1964. Ich war im zweiten Transport der
freigekauften und in den Westen entlassenen politischen Gefangenen. Ihre Mutter
- meine Großmutter - sah sie aber erst im Sommer 1968 wieder. Meine Oma
durfte die DDR erst verlassen, als sie todkrank war... Sie starb am 1. Juli
1968 in Irmchens Wohnung. Für mich ist "Muttis Wunsch" auch ein politisches Symbol -
für die Wiedervereinigung... für den Traum von der Wiedervereinigung, der sich
für uns nur bruchstückhaft erfüllt hat...
Irmchens Tod
Der lange Abschied
Wie ein Dolchstoß
Vom Himmel
Mitten durchs Herz
Tief in die Erde.
Tief in die Hölle des Versäumten
Das nie mehr zurückgeholt werden kann.
2008, meine Mutter beschreibt einen Traum - und wie sie darüber denkt:
Eine Straße breit und sicher, macht einen Bogen, Häuser, noch im Bau, sind von hinten zu sehen, ist mir vertraut, der weitere Weg war nur zu beschreiten, wenn man eine gefährliches Sumpfgebiet überwindet, also bleibe ich auf der sicheren Straße, die ich kenne, aber die nichts Neues bietet. Stillstand! Ich komme nicht weiter. Ist mir euch egal, wegen des hohen Alters, nähe den 90ern. Menschenschicksal.
Mir fehlt der Mut, aus dem Alltagstrott auszubrechen. Als wir jung waren, haben wir die Lebenslinien in der Hand untereinander verglichen, wollten eine möglichst lange haben. Jetzt denkt man anders. Das Alter mit seinen Beschwerden kann eine Last sein. Das liegt aber nicht in unserer Macht. Jetzt wünscht man sich, der Tod möge als Freund im Schlaf kommen, sanft und leise.
Er kam nicht als Freund im Schlaf, leider... Es wurde ein langer Abschied.
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Der letzte Tag
Irmgard Margot Maria Exner, geb. Sack, wurde am 7. März 1920 in Altwarthau bei Oppeln geboren,
in Schlesien, Kreis Bunzlau, heute Bolesławiec in Polen; sie erlitt hier in unserem Haus in Berlin
am 30. Januar 2009 einen Schlaganfall, und sie verstarb - auch hier im Haus - am
8. April 2009 zur Mittagszeit...
Sie wurde 89 Jahre alt…
In den Monaten davor dachte ich öfter daran, dass sie bald sterben könnte. Aber gleichzeitig ignorierte ich diesen Gedanken. Ich glaubte nicht, dass es grad heut oder morgen passieren würde. Vielleicht nächstes Jahr, oder übernächstes. Aber dann begann es an einem überraschendem HEUTE, am Mittwoch, 28. Januar 2009, so kurz vor 11 Uhr.
Etwa um halb neun hatten wir zusammen gefrühstückt. Ich war da immer recht schweigsam. Die Morgendepressionen dauern zwei, drei Stunden. Sie drückte mir kurz die Hand. Ihre Hand war kalt – ich versprach ihr die Wärmeflasche...
Ich denke oft an diesen letzten Händedruck, wünsche mir diesen Augenblick zurück. Ich würde aufstehen, sie umarmen und streicheln. Aber ich war etwas reserviert. Irgendwas von der Wurzel her, vom Ursprung. Der Vater war im September 1942 an der russischen Front gefallen, vier Monate nach meiner Geburt, ich wuchs praktisch mit Großmutter und Mutter auf, der Großvater war irgendwie auch dabei, aber kaum spürbar, er starb, als ich sieben war. Das männliche Prinzip kam nicht zur Geltung, und wahrscheinlich wehrte ich mich immer gegen das allzu dominierende Weibliche, das immer ängstlich Besorgte. Ich stand also auch jetzt nicht auf, auch wenn die Mutter inzwischen alt und gebrechlich war.
Gegen halb oder dreiviertel elf ging ich in ihr Zimmer und bat sie, nach draußen zu gehen, der tägliche Spaziergang. „Wenn es sein muss…“, sagte sie halb im Scherze. Ich erwiderte, jetzt sei das Wetter gut… Später würde ich in die Stadt fahren… „Zeig mal dein Ohr“, sagte ich. „Es hat immer noch diese entzündete Stelle… Weil du so oft auf mich hören musst, wehrt sich das Ohr… Aber was soll ich machen, dich den ganzen Tag hier liegen lassen?“ Dann ging ich aus dem Zimmer. Ein paar Wochen zuvor hatte ich ähnliches gesagt, dann hatte ich sie aber noch umarmt und gesagt: „Du weißt doch aber, dass ich dich liebe.“
Diesmal hatte ich das nicht getan. Und dann dieses "Dich-Hier-Liegenlassen"... Natürlich, sie konnte aufstehen, kam zum Frühstück, zum Mittagessen... Aber ich habe sie zu wenig besucht in ihrem Zimmer. Gedanken, die schmerzen, die sich bis ins Herz und in die Eingeweide senken...
Warum war mein Mund diesmal verschlossen? Nur diese Umarmung, dieser eine Satz – warum nicht wenigstens hin und wieder so eine Geste? Dann wäre es nicht ganz so schlimm gewesen, als die Stunde kam....
Ich ging nach oben, setzte mich wieder an den Computer, irgendwas, an dem ich gerade arbeitete. Es dauerte immer ziemlich lange, bis sie mit den beiden Krücken in den Flur gehumpelt war, Schuhe, Jacke, Handschuhe angezogen hatte. Trotz der Mühen beim Gehen und der stark nach vorn gebeugten Körperhaltung schaffte sie das alles allein.
Etwa eine Viertel Stunde später rief Christiane aus dem Treppenhaus, ich solle doch mal kommen, die Oma stehe schon eine ganze Weile in der Tür…
Noch auf der Treppe, beim Hinuntergehen, sah ich, dass sie wieder gegen meine "Anweisung" verstoßen hatte, ich formuliere das mal so überspitzt. Ich tat oft so, als könne ich sie wieder zu einer lauffähigen Oma trainieren – wenn sie nur meinen "Anweisungen" folge. Das linke Bein schleifte sie beim Laufen immer mehr oder weniger hinterher. Das war Folge des ersten „kleinen“ Schlaganfalls im Jahr 1999 gewesen. Deswegen sollte sie „links aktiv“ laufen, also das linke Bein immer zuerst bewusst einsetzen; das rechte Bein funktionierte ziemlich normal. Sie war hier aber mit dem rechten Bein zuerst über die Schwelle, und ich glaubte nun, das linke „Schleifbein“ sei nun an der kleinen Schwelle hängen geblieben. „Mutti!“ rief ich vorwurfsvoll, „du hast wieder das linke Bein stehen lassen!“
Sie stand oder hing regungslos in der Tür. Ich kam nicht an ihr vorbei, neigte mich aber über ihre linke Schulter und sah von der Seite aus in ihr Gesicht, und ich wusste, von diesem Moment an war alles anders. Sie lehnte bewusstlos oder stark benommen an der Tür, gestützt auf den beiden Krücken. „Mutti, Mutti, was ist!“ Aber ich wusste, was war, wollte es nur nicht ganz glauben. Jetzt begann sie nach vorn zu kippen, ich hielt sie fest, schrie nach Christiane, die kam hinunter gerannt und zog einen Stuhl heran. Ich ließ mein Irmchen auf den Stuhl sinken, Christiane stützte sie ab, und rief die 112 an. Es vergingen höchstens fünf oder sieben Minuten, da waren sie da, fünf Minuten später der Notarzt.
Im Elend des Wasserhauses: Das Haus hatte ich für die Familie gebaut. Für mich auch zum Arbeiten, und für den Lebensabend. Und für den verbleibenden Lebensabend meiner Mutter; auch sie hatte ihre Ersparnisse dafür hergegeben. Im Juni 2002 waren wir in das neue Haus eingezogen. Das meiste Geld war verbraucht, der ständige Kampf mit dem eindringenden Wasser, dem Problem, wohin mit den Sachen, das Herumschleppen der Kartons, dann das „Auftauchen“ von immer weiteren Baumängeln, über die Jahre, mehr und mehr – und immer wieder Wasser schöpfen, Pumpen kaufen, Wassereimer schleppen, bis die Muskeln und Knochen zu leiden begannen, das ist auch nicht einen Lebensweise, die man sich mit 60 ff vorstellt...., damals beim Einzug im Jahre 2002 war ich sechzig. Im April 2009, als Irmchen den Schlaganfall bekam, ging ich aufs 67. zu... Jetzt geht´s langsam Richtung .... , und es hat sich nichts geändert.
Das Sterben meiner Mutter hat die Brutalität dieser Lebensumstände so deutlich gemacht wie Kontrastmittel, die in Venen oder Lymphbahnen gespritzt werden: Die seelischen Schmerzbahnen, die der selbst ernannte „Architekt des Lebens“ hier mit seinem Meisterwerk erzeugt hat, bekam nun plötzlich die grellsten Farben.
Das alles ziemlich sinnlos sei, weil das Sterben ohnehin begonnen habe, übertrug ich letztlich auch auf meine Mutter. Mir war nicht bewusst, dass ich nach und nach den lockeren und humorvollen Umgang mit ihr verlor. Ich versorgte die gehbehinderte alte Dame, kümmerte mich um dies und jenes, stellte mir aber nie die Frage, ob ich ihr nicht mal eine wirklich schöne Stunde bereiten könnte. Ich hatte einige der alten Fotos auf die Computerfestplatte gescannt, auch, um sie ihr mal zu zeigen. Im Strudel zunehmenden Verlustes an Lebenssinn gingen solche Gedanken einfach verloren. Irgendwo in dem Chaos, das aus dem Keller hoch quoll und im Haus irgendwie verteilt wurde, sind zig Kartons mit alten Fotos und Musikkassetten, die sie über viele Jahre selbst zusammen gestellt und – geschnitten hatte, zum Teil auch selbst "besungen" hatte, verschwunden. Erst jetzt, 2013, habe ich den Großteil der alten Fotos wiedergefunden, die Kassetten auch, aber sie sind nicht mehr intakt, ihre Stimme ist verzerrt... So ist die Gelegenheit, dass sie ihr Leben noch einmal Revue passieren lassen konnte, verlorengegangen. Das ist das, was mich heute am meisten schmerzt. Wie hätte sie sich wohl gefreut, wenn ich ihr die Möglichkeit verschafft hätte, all die Bilder noch einmal zu sehen... Als ich sie im Oktober 2002 hier in dieses Haus holte, schien dies notwendig zu sein, damit die alte Dame meine Hilfe bekommt. Aber ihre schöne Wohnung, ihre Ordnung, die Identität, die sie dort aufgebaut hatte, ging verloren; verschwand in Kartons, die infolge des Wassers und des damit verbundenen Platzmangels über Jahre gestapelt und ungeöffnet blieben.
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Oma schwebt...
Eh´ ich mich der Lebensgeschichte meiner Mutter zuwende, will ich mich noch etwas mit ihrem Alter befassen. Sie hat mir einige Male gesagt, ich sei ungerecht zu ihr. Das tut mir jetzt weh, weil ich weiß, aus ihrer Sicht hatte sie recht. Am besten schildere ich das an einem Beispiel. Wenn sie allein in der Küche war und sich ein Brot geschmiert und gegessen hat, hat sie versucht, Kater Max mit einigen durchgekauten Brotstücken zu füttern. Ich weiß nicht, ob er je davon gefressen hat, Brot fressen Katzen wohl kaum - auf alle Fälle blieben mindestens einige der kleinen Happen liegen. Wenn ich die gefunden habe, hab ich gemeckert, und wenn es ein paar Mal hintereinander passierte, habe ich manchmal furchtbar gemeckert. "Ungerecht" war das eigentlich nicht, denn bei den Kindern hätte ich genauso geschimpft. Und doch bereue ich mein Verhalten sehr. Denn welche Freude hat denn eine alte Dame, die sich nur mühsam mit den Krücken vorwärts bewegen kann? Sie wollte halt auch mal den Max füttern - und konnte es nicht anders. Ich hätte doch einfach sagen können, komm, Mama, ich geb´ dir ab und zu ein paar Leckerli, die kannst du dem Max geben. So schwer wär´ das doch nicht gewesen! Ich weiß nicht, warum mir das erst einfällt, wo es zu spät ist. Ich hätte doch daran denken können, dass es bei einem so alten Menschen abwärts geht, die Reaktionen lassen nach, die Möglichkeiten, etwas zu tun, werden immer geringer. Wenn ich schon nicht in der Lage war, diesen Abwärtsdrift wenigstens ein wenig zu kompensieren, dann hätte ich ihr doch wenigstens ein paar "Privilegien" gönnen können. Krümel kann man doch leicht auffegen, da herummeckern, um sie von diesem Verhalten abzubringen, ist völlig unangemessen. In anderen Fällen mag es angemessen gewesen sein, dagegen zu halten, wichtig wäre jedenfalls, ein wenig zu überlegen, wie man reagiert. Und die Mutter anmeckern, ist meist ohnehin unangemessen. Jedenfalls hatte "meine" es nicht verdient. In dem Punkt hat, glaube ich, hat die Bibel recht mit ihrem vierten Gebot: Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren...
Zum 89. Geburtstag lag meine Mutter noch im Krankenhaus. Meine jüngere Tochter, damals 11 Jahre alt, malte ihr dieses Bild... Eine Hand konnte meine Mutter noch bewegen; sie nahm das Bild und betrachtete es lange... Ende März holte ich sie zum Sterben nach Hause.
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Das Vierte Gebot
Ich mache mir sonst keine Gedanken über die 10 Gebote, ich kenne sie wohl auch nicht auswendig. Aber dieses hier hat mich beschäftigt:
Auch nicht allein fordert, dass man Vater und Mutter freundlich und mit Ehrerbietung anspreche, sondern allermeist, dass man sich beide, von Herzen und mit dem Leib, also stelle und erzeige, dass man viel von ihnen halte und - nach Gott - für die Obersten ansehe. Denn welchen man von Herzen ehren soll, den muss man wahrlich für hoch und groß achten. Also dass man dem jungen Volk einpräge, ihre Eltern an Gottes statt vor Augen zu halten und also zu denken, ob sie gleich gering, arm, gebrechlich und seltsam seien, dass sie dennoch Vater und Mutter sind, von Gott gegeben.
Es liegt einfach nicht so sehr im Zuge der Zeit, die Mutter zu ehren, ich aber weiß jetzt, es wäre um meiner selbst gut gewesen, ich hätte ihr gezeigt, dass ich sie nicht nur liebe, sondern auch verehre. Ich weiß jetzt, ich hätte mich in meiner Haut und auch in diesem Haus besser gefühlt, und auch jetzt würde ich mich viel besser fühlen. Allzu leicht wird man Opfer diverser Teufelskreise, eingeschlossen in uns selbst.
Zunächst ein bisschen Hochzeit - und Stammbaum
Als Irmchen heiratete, war ich schon eine Weile unterwegs, und sie lebte in Bunzlau, eine Kleinstadt in Schlesien, heute Bolesławiec. Rechts die Kirche Wang (Karpacz, Riesengebirge). Informationen und Bilder findet man leicht im Internet - ich bevorzuge hier das damals gemachte, heute vergilbte, beschädigte Foto... Die kirchliche Trauung fand dort im Februar 1942 statt, genaues Datum nicht bekannt. Das Foto unten: vor der Kirche. Ganz links: Die Mutter meines Vaters, Hedwig Exner, geborene Schubert, die ich später "Omamutter" nannte. Auf dem "Taufbild" (eine Etage weiter unten) hält sie mich in den Armen: man erkennt deutlich ihre "dicke Backe", Folge einer Nervenverletzung bei einer Operation. Ich erinnere mich noch an sie.... Seltsam dieses Gefühl, das sich bei der Erinnerung einstellt: Sie ging hin und wieder mit mir spazieren, und mir ist so, als hätte sie mich gern öfter bei sich gehabt. Ich erinnere mich auch noch an das Bild und die Gefühle, als ich, etwa drei Jahre alt, neben ihrem Totenbett stand. Es war wohl der erste tote Mensch, den ich gesehen hatte (es sei denn, es gäbe "verdrängte" Kriegsbilder...). Rechts neben der "Omamutter" (auf dem Hochzeitsbild) ein mir unbekannter Mann, vermutlich ihr Mann, Friedrich Exner, mein Großvater väterlicherseits (habe keinerlei Erinnerung), von Beruf Postschaffner. Hinter diesem Mann, auch hinter der Braut, also hinter Irmchen: Tante Clara, die Schwester meines Großvaters mütterlicherseits, Richard Sack, Irmchens Vater, der auf beiden Bildern (auch auf dem "Taufbild") am höchsten steht, alle überragend. Eine Pose, die er offenbar gern einnahm. Rechts neben dem Bräutigam, meinem Vater, Irmchens Mutter, meine Großmutter Selma Sack; die anderen beiden Personen kann ich nicht einordnen - ich habe vergessen, um wen es sich handelt. Tja, das wäre nur eine einfache Frage an Irmchen gewesen... |
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Das "Taufbild": Die "Omamutter" hält mich in den Armen, rechts daneben, im weißen Kleid, meine Mutter - und ganz rechts ihre Eltern, die ich als "Oma" und "Opa" kenne. Alle anderen Personen kenne ich nicht bzw. habe vergessen, wer sie sind. Auch hier würde ich gern Irmchen fragen... Mein Vater ist nicht auf dem Bild. Wenige Stunden vor meiner Geburt, am 7. Mai 1942, wurde er einberufen; er kam nie mehr zurück. Ich wurde am 8. Mai, gegen sechs Uhr morgens, geboren.
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... und noch eins |
Mein Vater, Kurt Wilhelm Hermann Exner, Beruf Industriekaufmann, wurde am 5. November 1921 in Marienburg, Westpreußen, geboren, gefallen am 23. September 1942 bei Lassimina oder Lassinimo-Gskatskow??? (Ort heutzutage nicht - oder nicht mehr - auffindbar). Als letzter Wohnort war Bunzlau, Rotlacher Str. 12, eingetragen, das war das Haus und das Geschäft meiner Großeltern - die Eltern meiner Mutter. |
... und das ist meine junge Mutter, allerdings nicht in jenen Jahren, sondern ein paar Jahre danach, wahrscheinlich nach dem Krieg. |
Die Mutter meiner Mutter hieß Selma Elfriede Sack, geborene Scholz,
geboren am 18. Januar 1891 in Zedlitz Kreis Oppeln/Schlesien. Sie starb
am
1. Juli 1968, 12 Uhr mittags. Trauerfeier Mo, 22. 07. 68 um 10.20
Uhr, Friedhof Golgatha-, Gnaden- und Johannes Evangelist, Holländerstraße.
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Mein Großvater, Richard Sack, wurde am 25. Oktober 1887 geboren, und er starb am 19.
September 1948 um 12 Uhr in Strauch, Kreis Großenhain in Sachsen. Wir
waren dort als Flüchtlinge hingekommen und lebten dort bis 1949, bis zu
unserem Umzug nach Berlin... |
Großtante Clara kannte ich noch. Ich mache mal einen Zeitsprung. Als wir in Röntgental wohnten, so in den Jahren 1954 oder 55, war Tante Clara zu Besuch. Sie lief jeden Morgen eine Weile barfuß im taufeuchten Gras... was ich 50 Jahre später von ihr übernahm. | Tante Clara 1963 Die beiden Pudel Assi (rechts) und Peggy sind es offenbar gewöhnt, vor der Kamera zu posieren... |
Jugendfreundschaften
Wie schon gesagt: Tante Ilse war Irmchens Cousine - und in der Volksschulzeit und auch noch danach waren sie auch sehr gute Freundinnen. Irmchen war etwa zwei Jahre älter als sie. Als Irmchen 12, 13, 14 Jahre alt war, haben sie zusammen die großen Ferien in Bunzlau verbracht. Irmchen fuhr „im Gegenzug“ in den Herbstferien zu Ilse nach Breslau. Kommentar: "Lauter Unfug zusammen gemacht..." Der Vater von Ilse war Jahrgang 1894; er war wohlhabend, hatte ein schönes Lebensmittelgeschäft (Delikatessen) in Breslau.
Nach Abschluss der Schule, mit 14 Jahren, ging Irmchen für ein Jahr auf die Hauswirtschaftsschule nach Liegnitz, von Bunzlau aus die nächste größere Stadt. Danach hat Irmchen im elterlichen Geschäft gearbeitet: Zwei Jahre Lehrzeit, mit 17 dann Prüfung. Danach blieb sie weiter im elterlichen Geschäft als Verkäuferin. Sie ist auch in den "Bund deutscher Mädchen" eingetreten, den BdM. Wann das war, weiß ich nicht. Vielleicht mit 14? Dort gab es Musikgruppen; es wurden auch Fahrten gemacht. Irmchen sagt, das sei eine schöne Zeit gewesen. Dass sie auf die Nazi-Ideologie getrimmt worden seien, daran hatte sie keine Erinnerung. Freud´sche Verdrängung? Wenn ich alle Eindrücke, Erinnerungen und Persönliches zusammenrechne: Ich denke, dass ihre Aussage stimmt.
Seit der Zeit in Liegnitz verbrachten Irmchen und Ilse ihre Ferien nicht mehr zusammen, nicht wegen eines Streites, einfach so, weil des Lebens Bahnen sich ändern. In dieser Liegnitzer Schule war "Schwester Erika" Lehrerin. Mit ihr blieb Irmchen irgendwie das ganze Leben verbunden. Noch im Alter - da lebte Schwester Erika in einem Kloster in Magdeburg - bekam Irmchen liebevoll gestaltete Briefe von ihr... Als sie starb, lebte ich noch in Lichtenfels, also vor 1996. Ich wollte zu ihrer Beerdigung fahren... Der Zug fuhr irgendwann in der Nacht, und ich wartete auf dem falschen Bahngleis... Warum? Mir selbst rätselhaft. Die Zugverbindung nach Magdeburg war sehr schlecht, ich kam dort fünf Stunden nach der Beerdigung an...
Ilse und Irmchen blieben ein Leben lang Freundinnen, ebenso Irmchen und Brunhilde, die zweite Jungendfreundin. Auch alle drei waren oft zusammen, eine Dreierfreundschaft. Kurz vor Ihrem Tod, Ende 2008, schrieb Irmchen Ilse einen Brief, da war Brunhilde schon gestorben, April 2008. Irmchen war zu diesem Zeitpunkt 89 Jahre alt, an dem Brief wurde nichts verändert, kein Buchstabe: Liebe Ilse, für Deine lieben Wünsche zum Weihnachtsfest hab Dank. Ich
wünsche dir ebenfalls alles Gute, auch fürs kommende Jahr. Wenn diese Zeit
vorbei sein wird, werde ich froh sein. Mir geht es seelisch nicht gut. An meine
körperlichen Beschwerden habe ich mich gewöhnt. Wenn ich von Roland zu meinem
täglichen Kurzspaziergang gedrängt werde, muss ich meine zwei Krücken nehmen
(hm, Mama, musst du so oder so!) Im Frühjahr wird es wieder leichter sein. Als
wir jung waren, haben wir die Lebenslinien in der Hand untereinander
verglichen, wollten eine möglichst lange haben. Jetzt denkt man anders.
Glückliche Kindheit - aber mit Alptraum Meine Mutter wurde in Altwarthau bei Oppeln geboren. Die Familie wohnte in Bunzlau.
Mit etwa 9 Jahren zogen Richard und Selma Sack mit Irmchen nach Breslau. Geschwister
hatte meine Mutter nicht. Ein Brüderchen war gleich nach der Geburt gestorben. In Bunzlau war der Lehrer ein Säufer. Er setzte den Klassenersten vorn hin und verabschiedete sich in die Kneipe. Er war allerdings ganz offensichtlich von schönen Mädchen beeindruckt. Zusammen mit Freundin Brunhilde schickte sie Ihm einmal einen unfrankierten Brief: ,,Siehste da haste da kannste nischt, aber das Porto bezahlen.“ Was das wohl bedeuten sollte? Wir sind auch hübsche Mädchen, die kriegste aber nicht? Der Lehrer ließ dann Schriftproben an die Tafel malen, aber ohne Erfolg. Irmchen war musisch begabt. In der Schule spielte sie auf Vorführungen Violine; sie spielte auch im Theater mit (,,Kleinstadtzauber“) - als „Wanderbursche“ Lied gesungen, Abschied vom Meister „Lebet wohl...“ Die Informationen bringe ich nicht so richtig zusammen, vielleicht falsch notiert? In der Schule waren öfter Festlichkeiten, auch Theater. Irmchen hat einmal einen Prinzen gespielt, ein andermal dirigiert. Dabei war der Frack nicht richtig verschlossen, ein weißer Zipfel guckte an der falschen Stelle raus. Alle haben gelacht. Dadurch ist sie erst richtig ausgeflippt, wackelte mit ihrem Hintern, machte auch sonst komische Figuren. Der Saal hat getobt vor Lachen.
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Ausflug ins heutige Bunzlau = Bolesławiec
Ab den letzten 90ér Jahren wuchs in mir der Wunsch, einmal
in meine Geburtsstadt zu fahren. Dann, im Sommer 1999, fuhr ich meinem
Nissan-Kombi von Berlin los. Natürlich wollte ich auch unser damaliges Grundstück finden. Irmchen hatte mir einige Anhaltspunkte mit gegeben, nach denen ich suchen
konnte. In der Nähe unseres Grundstückes hatte es eine Fabrik mit Namen Concordia gegeben.
Dann war da eine Straße mit Gefälle, der sogenannte "Wollerberg", den
gab es auch in meiner Erinnerung, von mir als
"Berg" zum Schlittenfahren wahrgenommen. Meine Mutter ist als Kind genau diese
"gefällige" Straße mit dem Fahrrad hinuntergefahren, die Beine auf dem Lenkrad
- das "ging" natürlich nicht gut, am Ende landete sie zwischen den Hinterbeinen
eines Pferdes, ohne gefährliche Verletzung. Als ich in Bunzlau herumlief sah ich
plötzlich das Gebäude mit dem Namenszug "Concordia"! Ich war völlig überrascht,
dass dies über so viele Jahre unverändert geblieben war. Und dann "erkannte"
ich auch diesen Berg und unsere Grundstück. Das Haus existierte nicht mehr...
damals war es abgebrannt und Irmchen war wegen angeblicher Brandstiftung und
Sabotage verhaftet worden, aber dazu später... und es stand kein neues Gebäude an dieser Stelle.
Man sah den Boden des früheren Erdgeschosses, abgeschlagene Ziegelsteine,
die Umrisse waren noch zu erkennen, eine sauber abgetragene Ruine. Wieso erkannte ich unser imaginäres Haus?
Vor allem an dem Grundstück dahinter. Die alten Fotos... die ich leider nicht finde... Treppen
hinunter, der Grundriss, der Blick auf die ein paar hundert Meter entfernte
"Concordia". Es war verwildert, aber es war das Grundstück! Unser Grundstück!
Dort hatte ich meine ersten zweieinhalb oder drei Lebensjahre verbracht! Dort,
im Alter von zwei Jahren die ersten Erdbeeren gegessen. Irmchen hatte sie im
Garten geerntet und mir mit Milch serviert. Das Bild dieser leuchtend roten
Früchte habe ich immer noch vor Augen...
Vielleicht finde ich ja die älteren Fotos noch... Aber der etwas misslungene Ausflug führteuns an einer Verkaufsstätte für Bunzlauer Kramik vorbei... Das nächste Bild zeigt die erworbenen Stücke.
EpisodenIrmchen hat sich wegen ihres Vaters oft geschämt. Richard Sack hat Breslauisch gesprochen. Manchmal fing er laut an zu singen, alle haben gelacht. Irmchen mochte das nicht, insbesondere das Laute nicht. Auch beim Essen benahm er sich nicht manierlich. War aber alles "Geschmackssache". Ilse zum Beispiel hat sehr von ihm geschwärmt. Manchmal hat er sie vor den Angestellten runtergeputzt. Als sie noch klein war, in Warthau, hatte sie mal was ausgefressen. Er wollte ihr eine Ohrfeige geben, die Mutter ging dazwischen. Eine richtige Ohrfeige hat sie nur einmal bekommen, wusste aber eigentlich nicht, warum. Alle sagten nämlich zu einem Mädchen "Vollmond“. Als Irmchen das auch einmal sagte, gab es den Knaller auf die Backe. "Das ist dafür, dass du sie Vollmond nennst.“ Das hat sie überhaupt nicht verstanden. Sie kannte von diesem Mädchen gar keinen anderen Namen... Richard wurde auch leicht jähzornig, aber Irmchen konnte gut rennen; er hat sie nie gekriegt. Zum Beispiel um eine Litfasssäule herum. Und zu Hause... Wenn sie es bis in ihr Zimmer schaffte, folgte er ihr nicht. Das Zimmer war im ersten Stock, Jungmädchen-Zimmer, Glastür, innen mit Vorhang. Gardinen, Lampe, alles mit Kräuselohen (?), luftiger, duftiger Stoff. Sie musste noch nicht einmal abschließen, ich weiß nicht, ob sie überhaupt abschließen konnte. Die Tür war so eine Holz-Glas-Konstruktion, mit so einem kleinen weißen Vorhang vor dem Glas. Wenn er sie gejagt und sie glücklich ihr Zimmer erreicht hatte, versteckte sich Irmchen hinter hinter dem Vorhang, aber er blieb ohnehin vor der Tür stehen; sie sah dann seinen Schatten, als würde er zögern. Er ging dann immer weg. Sah sie ihn dann später wieder, war alles in Ordnung, alles "vergessen". Irmchen hat sehr gern Mohrenköpfe gegessen. Als sie das Jahr in Liegnitz war, kam er einmal wegen eines Arzt-Besuches dorthin. Irmchen war im Hort und spielte mit Kindern. Ihr Vater hat sie heimlich beobachtet; später die Mohrenköpfe zukommen lassen, ohne sich zu erkennen zu geben. Ein andermal hat sie ihn hinter dem Zaun gesehen. Sie ist hin, hat ihn aber nicht aufgefordert, hineinzukommen... Nach dem Jahr in Liegnitz, nach ihrer Rückkehr, durfte sie ausgehen, musste aber immer spätestens um 22 Uhr zu Hause sein. Er hat bei ihrer Rückkehr jedes Mal gehustet, um zu zeigen, dass er es registriert. Er hat sie gern etwas geärgert, aber sie war ihm da etwas über. Zum Beispiel fand er die Mädchen schön, die sie nicht leiden konnte. Irmchen: ,,Du hast vielleicht einen Geschmack“ usw. Weihnachten hat er immer Geschenke vor Irmchen ,,extra“ versteckt, z.B. hinter Vorhang. Zur Bescherung holte er das Geschenk, z.B. schwarze Brettl, gutes Holz, etwas Besonderes, demonstrativ hervor. Damit dokumentiert er, dass es wirklich von ihm war. Kuss-Schock "Kannst du immer noch so gut küssen?" Das Leiden unter der Schwangerschaft - und der AuswegIrmchen sollte immer besonders brav sein, wegen des Geschäfts. Aber auch
da gab es Tricks. Sie mochte eine Frau nicht, grüßte sie nie, rief auch mal
was zum Fenster raus. Die Frau beschwerte sich bei den Eltern... Wenn sie
Irmchen und Brunhilde mal entgegenkam, waren die beiden dermaßen
beschäftigt, dass sie nicht grüßen ,,konnten“... Auch eine Bäckersfrau
mochten sie nicht, und so aßen sie demonstrativ vor ihrem Laden
Liebesknochen von der Konkurrenz. Ein andermal sammelte sie mit ein paar
Kindern Äpfel im Garten, die sie auf den Balkon der Bäckersfrau warfen. Dann
haben sie sich sofort versteckt. Die Frau beschwerte sich bei den Eltern,
aber Irmchen und Brunhilde hatten fest vereinbart, nichts zuzugeben.
Hier hat Irmchen die Oma (ich meine: ihre Mutter) das einzige Mal richtig
belogen - später hat sie ihr das gebeichtet... Jahre später. Irmchen war bei
der Hitlerjugend (HJ) nur in der Musikgruppe - und hier das einzige Mädchen.
Jungen aus dieser Gruppe haben sie öfter besucht; einer schrieb
Liebesbriefe. Opa (also Muttis Vater) sagte zu ihr über die Jungen: ,,Wie
die Hunde...“ Das fand sie abstoßend. Dann gab es Festlichkeiten,
Volkstänze. Kurt war, wie schon erwähnt, in Liegnitz stationiert. Als Irmchens Vater ihn dann kennenlernte, war er begeistert: ,,Das ist ja ein Mann, mit dem kann man reden.“ Nun kam Kurt regelmäßig zu Besuch. Richard hat Irmchen mal vor anderen angebrüllt. Kurt ging dazwischen: ,,Das ist meine Frau. Ich verbiete dir, so mit meiner Frau zu reden.“ Da hat der Großvater erst einmal nichts gesagt, später aber kommentiert, und zwar positiv. Wieder etwa so: Kurt, das sei ein richtiger Mann. Irmchen fühlte sich bei Kurt "geborgen". Die Hochzeit fand im Februar 1942 statt - nicht in Bunzlau, sondern im Riesengebirge, in der Kirche Wang... Die Hochzeit fand im engsten Kreis statt. Und sie war sehr teuer, besonders das Wang-Hotel, und auch die anschließende Hochzeitsreise. Wohin, weiß ich leider nicht, vermutlich blieben die beiden im Riesengebirge ... denn ich hatte einmal notiert: "Irmchen war schwanger – Kurt zog sie oft mit dem Schlitten." Hier auf den folgenden Bildern wohl gerade bei einer Pause...
... und meine GeburtWenige Tage vor der "geplanten" Niederkunft, wahrscheinlich am 7. Mai 1942, klingelte das Telefon; man verlangte nach Kurt Exner. Nach dem Anruf erklärte Kurt, dass er eingezogen wird; er müsse sofort Sachen packen und abreisen... Was er auch tat... hier würde ich gern nachfragen, wie dieser Abschied verlief... Vor Schreck setzten bei Irmchen jedenfalls verfrühte Wehen ein... Die Eltern versuchten vergeblich, in der Nacht vom 7. zum 8. Mai ein Taxi für den Transport ins Krankenhaus zu bekommen. Der angehende Großvater und die angehende Großmutter nahmen Irmchen in die Mitte, stützen sie unter die Arme und schleppten sie - so zwischen fünf und sechs Uhr morgens - ins Krankenhaus. Im Familienalbum steht über mich: "... ist am 8. Mai 1942 in Bunzlau im Kreiskrankenhaus geboren." Das war hoffentlich nicht allzu weit von der Rotlacher Straße entfernt. Aber auch wenn es nur einen Kilometer entfernt war - in dieser Verfassung muss jeder Meter eine Qual gewesen sein, zumal man ja nicht wusste, ob ich bis zur Ankunft im Krankenhaus "warten" würde... Großmutter hatte vorher geträumt, es wird ein blonder Junge! War es dann ein blonder Junge? Das Babyfoto liefert keinen Beweis, hier täuscht wahrscheinlich das Licht-Schatten-Spiel der Schwarz-Weiß-Filmtechnik, denn andere Bilder vom Kleinkind Roland zeigen: Ich war blond, bis Sommer 1947. Da sprang ich an einem heißen Tag kopfüber in einen dunkel-morastigen Tümpel, wovon ich dunkle Haare bekam. Oh, wie doch die Erinnerung täuschen kann!... Irmchens erste Frage an den Arzt: "Hat er auch alles?" "Ja, nur die Beine sind etwas krumm." Das war vielleicht auch eine Schwarz-Weiß-Täuschung - hat sich später jedenfalls nicht bestätigt. Ich habe keine krummen Beine... Der Großvater flippte völlig aus; er schenkte den Kunden Würste. Damals war ein Junge“ immer besonders erwünscht, eine Art Massenhysterie, vielleicht auch angezündelt durch den Wunsch der Nazis, viele Soldaten zu züchten. Und "blond" war da auch nicht schlecht... Das Baby Roland sah aus, wie wohl viele Babys in den Augen ihrer Mütter aussehen, was aber keineswegs falsch sein muss: unverwechselbar, Schnuppe so hoch wie ein Dach. Die Schwestern im Krankenhaus nahmen mich immer wieder weg, das war damals wohl so üblich. Heute Gott sei Dank nicht mehr. Die ersten beiden der folgenden Bilder wurden schon oben gezeigt. Macht nichts, arbeite ich später um.
Irmchen ging oft mit mir spazieren. In Erinnerung, vor meinen Augen, habe ich einen langen Waldspaziergang. Sie zauberte. Ich wunderte mich, wie meine Mütze immer verschwand und dann wieder auf seltsame Weise auftauchte... Das Bild oben: links unbekannte Frau, in der Mitte ich, Irmchen rechts. Wo und wann aufgenommen - ist für mich rätselhaft. Es sieht alles gutbürgerlich aus. Irmchen trägt einen schicken Mantel, sieht sehr gut aus. Ich bin auch schick gekleidet, weiße Kniestrümpfe mit Bommel! Das Bild muss also zu einer Zeit entstanden sein, als die Front noch nicht über Schlesien gerollt war... Da hier Sommer ist, also 1944. Aber da war ich zwei Jahre alt, das passt also nicht. Ich sehe hier wie vier aus. Das war 1946. Da waren wir wieder in Bunzlau, aber da war unser Haus abgebrannt, wir mussten von einer Wohnung zur anderen ziehen, da sahen wir nicht mehr so wohlsituiert aus... Leider kann ich Irmchen nicht mehr fragen. Die letzte FeldpostKurt rief von unterwegs an (unsere Telefon-Nummer in Bunzlau: 1515) und er
erfuhr auch, dass bei mir "alles dran" war – und schickte einen großen Strauß
roter Rosen. Rot, die Farbe der Liebe und des Blutes... Wie ging es meiner
Mutter in den folgenden Monaten? Ich habe keine Notiz - und jetzt kann ich sie
nicht mehr fragen... Er fiel am 23. September 1942 bei Lassiminow-Gschatsk (Gschatsk
heißt heute Gagarin), im sogenannten Fleischwolf von Rschew. Es tröstet mich
etwas. dass er kurz vor seinem Tod angefangen haben soll, die Herrlichkeit
dieses Krieges in Zweifel zu ziehen. Also Gott sei Dank kein Heldentod. Den
Heldennamen hatte man mir allerdings noch verpasst: Roland... Mein Vater wurde
knapp 21 Jahre alt, sein Geburtsdatum: 5. November 1921. Todesursache laut
Familienstammbuch: "gefallen". Als ich am 8. Mai 1943 ein Jahr alt wurde, hatte Irmchen das Tal überwunden; ihr Leben normalisierte sich. Sie unternahm - oft zusammen mit einer anderen Mutter - Spazierfahrten, oder sie fuhr zum Baden. Ich saß dabei immer vorn im Körbchen, das Gesicht Irmchen zugewandt. "Du hast süß ausgesehen", erzählte sie mir, "hattest blonde Haare, die standen in der Mitte immer hoch, wie eine Hahnenkamm-Frisur..." Na, und das ohne Trockenshampoo und Haarspray! Eine Episode aus jener Zeit: Irmchen war eingeschlafen - und träumte, ich sei am Ertrinken... und der kleine Roland wäre tatsächlich ertrunken, wenn Irmchen mich nicht aus dem Wasser geholt hätte! 1943, 1944 - die Front verlief noch in der Sowjetunion, rückte aber unaufhaltsam näher. Ich weiß nicht, wie sich das auf Irmchens Lebensgefühl auswirkte. Jetzt, beim Schreiben dieser Zeilen, taucht diese Frage auf und bleibt im Raume stehen... Aber der Familie ging es gut, Bunzlau ist eine schöne Kleinstadt - übrigens, auch heute noch, wieder aufgebaut wie vordem, mit Namen Bolesławiec... ### Weitere Episoden, Erinnerungen, TräumeErinnerungen aus den ersten zweidreiviertel Jahren meines Lebens... Also bis Februar/März 1945... Wie ich das eingrenzen kann? Es ist das irgendwie sichere Gefühl, dass sich diese Erinnerungen auf eine intakte Umgebung beziehen, bei uns zu Hause, und das existierte -kriegsbedingt- nur bis etwa Februar 1945. Wenn ich an jene Episoden denke, spüre ich förmlich das intakte Haus um mich herum, den großen, paradiesischen Garten... Einfach ein Bild, nichts Besonderes, aber eben in diesem Zuhause: Dämmerung, ich liege im Kinderbett, weiß, mit "Gitterstäben", also typischen Kleinkind-Bett. Ich war wohl höchstens ein Jahr alt. Irmchen kommt ins Zimmer. Ihr Gesicht habe ich nicht deutlich vor Augen, aber die Jacke, die sie trug: Ein zugeschnittener Kragen mit einem langen spitzen Einschnitt, entfernt ähnlich einer Anzugjacke, aber eben weiblicher Schnitt, breite, braungelbe Streifen, schattiert und schmaler werdend bis zum Grau hin... Irmchen nahm mich aus dem Bett, hielt mich in den Armen. Vielleicht hatte ich geschrien und sie war deswegen ins Zimmer gekommen? ♦ In meiner Erinnerung war es eine "lange Zeit", da ich immer einen etwa gleichartigen Traum hatte. Aber was ist eine "lange Zeit" für ein Kind, das noch im "Gitterstab-Bett" liegt? Es ist noch ein kleines Bett, aber mir erscheint das Bettchen ganz geräumig. Ich bin jedoch kein Baby mehr, bin in der Lage, mich aufzurichten, mich am Gitter festzuhalten. Das Bett ist völlig ohne Bettzeug, ohne Matratze. Ich stelle mich an die Frontseite und weiß irgendwie, dass ich mein Bettchen steuern kann. Das Bett erhebt sich, fliegt langsam bis zügig durch die Luft. Schließlich lande ich auf einer Blumenwiese, dort steige ich aus. Ich kann "entscheiden", wann ich zurückfliegen will. Soweit die Erinnerung an diese Träume. Ich kann mich nicht erinnern, ob ich bei diesen Ausflügen hin und wieder etwas Besonderes "erlebt" habe. Egal: Es war unglaublich. Diese Freiheit, dieses Fliegen, diese Blumenwiese... ♦ Ich saß am Tisch, Irmchen stellte mir - mit ein paar aufmunternden Worten - eine Schüssel mit Erdbeeren und Milch hin. Die Erdbeeren waren aus dem Garten, das weiß ich einfach. Ein herrlicher Anblick, diese süßen, saftigen, roten Früchte. Wenn ich die Augen schließe, sehe ich sie noch - leuchtend, mit dem "herrlichsten Rot" der Welt. Vermutlich war das im Frühsommer 1944 - und es wird viel Zeit verstrichen sein, bis ich wieder einmal Erdbeeren essen konnte... ♦ Diese Erinnerung "fühlt sich an" wie ein Traum, aber ich weiß, es war Wirklichkeit... Irmchen führt mich an der Hand. Wir gehen auf ein Grundstück, ein gepflasterter Weg. Rechts ein sehr hohes Haus - wahrscheinlich "sehr hoch", weil ich noch sehr klein war, ein Kind, das ein paar Monate - oder höchstens ein Jahr - zuvor Gehen gelernt hatte. Das Haus wirkt wie eine hohe Mauer, vielleicht, weil ich, der "Zwerg", kein Fenster sehe. Das Haus bzw. die Mauer ist dann zu Ende - wir biegen um die Ecke, zur hinteren Front des Hauses. Was ich dann sah, war sowohl im wahrsten Sinne des Wortes als auch im übertragenen Sinne überwältigend. Vielleicht 50, 60 oder70 Meter entfernt stand ein riesiges, gewaltiges Tier. Dort hinten schien auch ein Haus quer zu sehen, davor eine sehr hohe, dem gewaltigen Tier angemessene Überdachung. Irmchen erklärte, das sei Elefant - und ich sprach dieses Wort nach (ob es gleich gelang, weiß ich nicht mehr). Wir gingen geradewegs darauf zu, und dieser Elefant wuchs und wuchs, am Ende musste ich, der "Zwerg" wohl fast ganz nach oben schauen, um dieses Tier im Blick zu behalten. Und dieser Rüssel! Ein paar Meter links von uns stand ein Mädchen, vielleicht war se sechs oder sieben Jahre alt, sie trug einen kleinen Korb am Arm, den stellte sie auf den Boden. Dann nahm sie eine Blume aus dem Körbchen, mit kleinen, zarten rot-pinken Blüten, streckte die Hand zu dem Elefanten hin... der ergriff sie mit seinem Rüssel, wedelte den Rüssel, die Blume haltend, hin und her, um sie dann in den Mund zu stecken... Wie gesagt: Wie ein Traum... Es muss ein afrikanischer Elefant gewesen sein. Denn in den folgenden Jahren erfand ICH in meinen Träumen den (mit seinen Ohren) fliegenden Elefanten. Obwohl das wiederum seltsam war, denn vor meinen Augen erscheint bei der Erinnerung ein gewaltiges Tier, das auch bei einiger Fantasie nicht mit "Fliegen" in Zusammenhang gebracht werden könnte. Ich träumte auch eher von "Jumbo"-ähnlichen Elefanten, ähnlich dem jungen Elefanten in der Micky-Maus: Körper relativ klein, Ohren riesengroß... Noch Jahre später, wir hatten als "Flüchtlinge" in einem Schloss einen Raum zugewiesen bekommen, lief ich zuweilen in dem Schlosspark herum, eine große Weidenrute vor mir hertragend... einen Elefanten fantasierend, der seinen Rüssel wippte. Im Wachzustand, oder genauer: Im Elefanten-Trance, schien mich eher der Rüssel zu beeindrucken... ♦ Ich weiß nicht mehr, welches Lied mir Irmchen mit ihrer klaren, schönen, doch unverwechselbar nach "Irmchen" klingenden Stimme, das erste Mal vorgesungen hat. Was in meinen Ohren aber noch heute klingt und auch nie verklingen wird: "In einem kleinen Apfel, das sieht es lustig aus: es sind darin fünf Stübchen, grad wie in einem Haus..." Ich hatte das Gefühl, dass der Apfel - oder wohl ihr ihr Lied - etwas war, das mir Geborgenheit gab. Es war ein neues Gefühl, ganz groß und tief, oder eher: Ein Gefühl, das ich in diesem Moment entdeckte. Warum habe ich sie, als sie hier bei mir wohnte, nie gebeten, diesen Lied noch einmal zu singen? Warum habe ich es nicht (mit ihrer Stimme) auf Kassette aufgenommen? Vielleicht, damit sich die Sehnsucht danach nun unendlich dehnt... ♦ Wieder in Traum. Er beinhaltet etwas Bedrohliches. Das war vielleicht im
Winter 1944/45; das "Zuhause" war noch vorhanden: Ich sehe einfach nur eine brennende Kerze. Das Licht beruhigt, "strömt" Ruhe
aus, ist angenehm weich, wie Balsam in der Seele. Plötzlich aber fängt es an zu
flackern, und dieses Flackern wird immer heftiger - es beunruhigt mich sehr,
und ich wache auf. ♦ 1944, vielleicht schon nach 1945. Leider habe ich die genauere Erzählung vergessen, leider auch nichts notiert: Mutti war mit mir beim Arzt, der fummelte mit mir irgendetwas herum und merkte nicht, dass ich im Gesicht schon blau anlief. Sie fuhr den Arzt an - und ich wurde wiederbelebt. ♦ Schon seit der Jugendzeit hatte Irmchen Probleme damit, dass sie zur Unzeit einschlief. Sie war Teenager, saß mit einem jungem Mann auf einer Bank. Gegenüber ein paar hohe Pappeln. Der Junge erzählte mit etwas monotoner Stimme. Zwischendrin streute er eine Frage zu den Pappeln ein. Da war Irmchen gerade in der Dämmerzone. Sie antwortete: “Die Bäume, ja, die Bäume pforzen.“ Er, ruckartig: „Wie bitte?“ Nun war sie wieder klar. Sagte irgend etwas Besänftigendes. ♦ Irmchen war mit mir zum Bober gefahren. Sie schlief ein, ich krabbelte zu tief ins Wasser, drohte zu ertrinken. Genau das träumte Irmchen - und wurde wach... Einmal, so erzählte man, sei sie sogar beim Radfahren eingeschlafen und so in die Büsche gefahren... ♦ Ich habe mit ihr folgendes erlebt: Sie wollte sich im Fernsehen unbedingt einen Film ansehen, es war noch eine halbe Stunde bis dahin hin. Ich bot ihr eine Wette an; setzte darauf, dass sie vorher einschlafen würde. Sie hielt dagegen, schlief aber zwei Minuten vor Beginn des Films ein... und ärgerte sich, weil sie die Wette verloren hatte. Sogar ein bisschen wütend war sie! ♦ Sie war mit Willi bei Bekannten zu Besuch, wurde müde. Sie kniff sich immerzu in den Arm und die Schenkel, um wach zu bleiben. Dann kam doch die Dämmerzone: Die eigens zugefügten Kneifer wurden nun zu einem plötzlichen Schlangenbiss, und sie schrie hellauf! ### Flucht vor der Front, freundliche Russen, Haus abgebranntSchon Ende Januar 1945 hatte die Rote Armee die Vorkriegsgrenze des Deutschen Reiches im Bereich Oberschlesien überschritten. Im Februar rollte die Front auch auf Bunzlau zu. Die Menschen flüchteten, nur wenige blieben noch in der Stadt. Die Familie Richard und Selma Sack und Irmchen gehörten dazu... Da würde ich heute gern nachfragen: Warum? Die "Kopf-In-den-Sand-Stecken-Technik"? Allerdings kann man das verstehen: Alles, was im Leben materiell aufgebaut worden war, aber auch: die Heimat - musste verlassen werden... Ich habe leider nur eine Aussage von Irmchen notiert: "Wir haben noch im Laden verkauft..." Das unübersehbare, näher rückende Unheil wird von ihr kurioserweise mit "endlich" beschrieben. Na ja, der Satz beginnt mit diesem Wörtchen: "Endlich haben auch wir Sachen gepackt und sind mit dem Treck weg. Einen großen Leiterwagen voll gepackt, nur das Notwendigste. De Tiere - ein Pferd und Hunde - zurückgelassen, weil Pferd und Wagen unterwegs meist geraubt wurden. Wir kamen in die Tschechoslowakei, ein Lager in Tabor." Dort bin ich sehr krank geworden, wahrscheinlich Mangelerscheinungen: dicker Bauch, dünne Beine - vielleicht Rachitis? Ich sollte ins Krankenhaus. Rein gefühlsmäßig wollte Irmchen das nicht - und die Ereignisse haben ihr Recht gegeben; jedenfalls haben viele, die ihr Kind dort in eine Krankenhaus gegeben haben, ihre Kinder nicht wiederbekommen, jahrelang Suchmeldungen aufgegeben. Abwechselnd haben sie mir nachts den Bauch massiert. Ich wollte immer Äpfel. Irmchen hat dann für mich ein paar verschrumpelte Äpfel erbettelt. Das war sehr schwer, weil die Leute in der Tschechoslowakei sehr feindselig waren. Aber Irmchen konnte geschickt verhandeln... Beim Anblick der Äpfel glänzten meine Äuglein. Das hat mich wieder auf die Beine gebracht. Irmchen beschaffte immer wieder ein paar Äpfel. Eier beschaffte sie auch, "zum Teil geklaut". Nach Breslau wollten wir nicht zurück, hatten gehört, dass die Stadt dem
Erdboden gleichgemacht worden war - was allerdings ein falsches bzw. sehr
übertreibendes Gerücht war. Aber deswegen gingen wir nach Habelschwerdt im
Glatzer Bergland, zu Tante Clara, Opas Schwester. Sie hatte dort ein
Sommerhaus. Wir bewohnten dort ein Zimmer mit Kochgelegenheit. Tante Claras
Tochter Margot, eine große, schöne Frau, war sehr krank; sie hatte TBC. Kinder
von Margot: der kleine Bernd so alt wie ich, Peter und Eberhardt waren größer.
Und dann gab es dort noch ein Dienstmädchen mit Namen Selli. Von Tante Clara haben wir keine Lebensmitttel bekommen, obwohl sie viel hatte. Margots Mann Gotthardt war nämlich ein hohes Tier, Flieger, Orden auf der Brust – kam überallhin. Er brachte viel aus dem Ausland mit, z.B. Liköre, Kakao. Sie haben massenweise Flaschen und anderes vergraben; nichts abgegeben. Selli, die Haushälterin, hat freilich so manches Mal etwas abgezweigt und uns gegeben. („Die haben so viel, das merken die doch gar nicht.") Margot und Gotthardt waren groß und stattlich, elegant gekleidet – ein sehr auffallendes Paar. Tja, hm, der Gotthardt wollte Irmchen auch mal küssen, hat sie regelrecht im Zimmer gejagt. Irmchen hat laut "gepläkt" (dieses Wort benutzte Irmchen. wahrscheinlich schlesischer Dialekt). Er bekam einen ganz roten Kopf – hat „Zicke“ gesagt und ist abgehauen. Eine Episode in Habelschwerdt: Irmchen sah in einem Haus einen Sack, fühlte, dass es Mehl ist... warf den Sack kurz entschlossen in den Kinderwagen - und der brach zusammen. Sie fuhr hochkant zur nächsten Reparatur-Werkstatt... Fünf Pfund kostete die Reparatur. Als Mutti dann zu Hause ankam, wollte Tante Clara auch was abhaben... Unglaublich, hatte Überfluss, hortete das ganze Zeug, vergrub es, gab ihren nahen Verwandten nichts ab - wollte aber nun von Irmchen abstauben. Irmchen gab ihr 10 Pfund... Auf einmal waren Russen in der Stadt. Aber die Schauergeschichten, die sich andernorts oft erfüllten, schienen hier nicht wahr zu werden. Die waren höflich und zuvorkommend. Ein Offizier hat Irmchen gleich angeboten, sie zu schützen. ,,Sie stehen unter meinem Schutz!“ erklärte er. Tatsächlich ist ihr auch nichts passiert. Glück, man hatte andere Sachen gehört... War der Krieg nun zu Ende? Das wusste niemand so genau. Oma und Opa wollten nun erfahren, was mit ihrem Haus in Bunzlau war. Sie machten sich beide allein per Fuß und Autostopp auf den Weg. Wenige Tage danach starb Margot, sie hatte TBC, lag im Bett. Mutti war gerade in dem Zimmer. Margot fühlte sich sehr schlecht. „Ist das der Tod?“ fragte sie plötzlich - und starb… Nach 14 Tagen hielt es Mutti nicht mehr aus in Habelschwerdt. Sie packte ein paar Habseligkeiten zusammen, legte mich in den Kinderwagen und zuckelte los, zu Fuß, die Bahn fuhr ja damals nicht! Sie musste also etwa 50 Kilometer laufen, sicher kein ungefährliches Unternehmen. Ein polnischer Offizier sprach sie an und fragte, ob sie keine Angst habe. Sie antworte: Ja, sie habe große Angst, aber die Sehnsucht nach den Eltern sei stärker. Sie begegnete auch russischen Militär-Kolonnen, aber da hielt niemand an. Der Kinderwagen ging wieder kaputt, sie kam nur noch mit großer Mühe vorwärts, und es waren noch relativ viele Kilometer bis nach Bunzlau. Angst hin, Angst her - in ihrer Not winkte sie, um mitgenommen zu werden. Es dauerte Stunden, bis einer hielt. In einer Militärkolonne war eine große Lücke, der letzte Jeep hielt an. ,,Bunzlau“ verstanden die Russen. Mutti konnte einsteigen. Noch vor Bunzlau hielt die Kolonne an. Alle kamen zu dem Auto und wollten Klein-Roland in den Arm nehmen. Ein Russe erklärte mit Gesten seinen Kindersegen: ,,Klein, etwas größer, noch etwas größer“. Also - die waren nett, aber Irmchen hatte trotzdem Angst, klammerte mich fest, gab mich nicht aus dem Arm. In Bunzlau wurden wir vor einer Apotheke abgesetzt. Sofort kamen Leute heraus und erzählten, dass die Großeltern die Stadt hätten verlassen müssen. Sie seien Richtung Görlitz / Grenze gefahren. Und: ,,Ihr Haus ist abgebrannt...“ Kaum war Irmchen in Bunzlau, wussten dies auch schon die Großeltern in Görlitz. Hin und wieder bestand zwischen beiden Städten Pendelverkehr mit der Bahn, und so "pendelten" wohl auch die Nachrichten... Aber Irmchens Mutter, also meine Großmutter, wartete nicht auf die nächste Bahn; sie kam zu Fuß zurück. Sie war so dünn wie nie zuvor (und - Gott sei Dank - wie nie mehr danach). Als sie Irmchen wiedersah, wurde sie bewusstlos und fiel um, aus Freude... Opa war in Görlitz geblieben, dort herrschte Hunger. Nur jene, die bei den Polen arbeiteten, blieben davon verschont. In Bunzlau suchte ein polnischer Fleischer noch jemanden, und so kam auch der Großvater zurück. Ansonsten lebten wir von Tauschgeschäften, bei denen Irmchen ein gewisses Talent entfaltete.... Wir suchten eine Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung, fanden aber auf dem üblichen Wege nichts - und zogen dann einfach in eine leer stehende Wohnung. Alles war total verdreckt, in den Zimmern Scheißhaufen. Aufräumen und Säubern machte sehr viel Arbeit, schließlich haben wir auch noch Möbel besorgt. Dann kamen Leute und befahlen: ,,Raus, raus, raus!“ So ging das sechsmal! Dann ging Irmchen zum Wohnungsamt und beschwerte sich. Der Leiter des Amtes, Litkowski, sagte, das Verhalten dieser Leute sei verboten. Er bot persönlichen Schutz an. Sobald sich etwas derartiges wiederhole, solle Irmchen ihn benachrichtigen. Er bot ihr sogar Arbeit an... Er war 44 Jahre alt, Mutti 24; sie fühlte sich geschützt... Na ja, ganz uneigennützig war sein Verhalten vielleicht nicht (oder doch?)... Jedenfalls entwickelte sich ein Liebesverhältnis... OhnmachtDie Arbeit des Wohnungsamtes bestand unter anderem darin festzustellen, welche Häuser bewohnt waren, welche nicht, ob Deutsche dort wohnten oder Polen. Deutsche sollten ausgewiesen werden. Wer irgendwo einzog, musste sich dies durch das Amt genehmigen lassen. Mit Litkowskis Hilfe fanden wir eine Wohnung und konnten dort auch bleiben. Irmchen verdiente 200 Zloty im Monat - ich habe leider nicht notiert, welcher Art diese Arbeit war. Oma und Opa sammelten Flaschen, die sie verkauften. Klein-Roland war immer dabei. Litkowski sagte immer: ,,Roland Schwerarbeiter“. Einmal spielte ich, als die Großeltern Flaschen und anderes suchten, auf einem Dachboden im Heu. Plötzlich hatte ich keine Hosen mehr. Langes Suchen, aber wir fanden sie nicht wieder. Oma zog mir schließlich eine braune Wolljacke an. Die Ärmel dienten als Hosenbeine... Leider kein Erinnerungsfoto... Im Keller hatten wir eine Ziege versteckt. Nach ein paar Wochen kam ein
polnischer Offizier und fragte in gutem Deutsch höflich nach der Ziege: ,,Ihre
lieben deutschen Nachbarn haben erzählt, dass Sie eine Ziege im Keller haben.
Stimmt das?“ Oma erwiderte: ,,Ach, lassen Sie uns die Ziege doch noch einen
Tag, damit wir noch etwas Milch haben. Und wenn Sie die Ziege nicht finden,
werden Sie uns vielleicht auch keine Schwierigkeiten machen?“ Es wohnten aber wohl zwei Seelen in seiner Brust, oder er bekam Instruktionen, die er befolgen musste. Einen Tag später kam er wieder. Die Ziege war gut versteckt worden, und sie meckerte auch nicht darüber; sie gab keinen Ton von sich. Aber jetzt wollte der Offizier die Ziege. Als wir schwiegen, wurden wir in einen Keller gesperrt... kein Licht, kein Fenster... Es muss schauerlich gewesen sein, und es hat wohl seine Gründe, dass ich mich daran nicht erinnere. Vielleicht hat es auch seine Gründe, dass ich nicht nachgefragt habe, als Irmchen mir das (etwas vage) erzählte. Heute würde ich es gern genauer wissen. Wie ging das weiter? Ich weiß es nicht. Wie lange waren wir in diesem Keller? Haben wir dann gesagt, wo die Ziege ist? Oder hat man sie gefunden, weil sie dann doch schrie? - vor Durst und Hunger... Bei der Flucht vor der heranrückenden Roten Armee hatten wir die Tiere zurückgelassen... Als wir wieder zurück in Bunzlau waren, war unsere Schäferhündin Senta im Besitz eines russischen Soldaten. Senta war fünf oder sechs Jahre alt, und (so erzählte Irmchen) alle in der Stadt wussten, wem der Hund gehörte. Senta hatte die Anwesenheit der Großeltern gespürt, als sie irgendwo in der Nähe waren. Sie wurde plötzlich unruhig, schrie vor Freude, dass es weithin zu hören war. Und die Großeltern wussten, dass das ihre Senta war. Sie gingen hin, Senta war angekettet, sie gaben ihr zu essen. Der Russe, von Beruf Koch, war nicht unfreundlich, ließ sich auch ein wenig bestechen. Man fasste Vertrauen zueinander. Als Irmchen nach Görlitz wollte, um von dort noch ein paar Sachen zu holen, nahm er sie mit dem Auto mit. Er sagte: ,,Ich viel Appetit auf dich“, er war aber in Ordnung. Als der Russe versetzt wurde, wurde Senta von der polnischen Miliz geholt. Nach einiger Zeit riss sie sich von der Kette los, wurde wieder geholt, riss, mit Wunden am Hals, wieder aus... Wir hörten sie vor der Haustür laut winseln, an der Tür scharren. Wir ließen sie hinein. Eine Riesenfreude, Senta sprang herum, schrie vor Glück, so kann man es sagen. Dann erschienen zwei oder drei Männer, einer mit einer schweren Peitsche. Einer der Männer schlug mit aller Macht auf Senta, nun schrie sie vor Pein, sie jaulte, hob die Pfote - aber die schwere Peitsche hörte nicht auf zu klatschen. Ich erfuhr in diesem Moment, was Ohnmacht ist. Ich weinte nicht, ich erstarrte. Als die Männer weg waren, fragte ich, warum wir Senta nicht behalten können, warum wir nichts machen können. Irgendwie wusste ich aber auch so: Wir konnten nichts machen. Einige Tage oder Wochen später ging Irmchen mit mir auf einer Straße, man hatte Einblick auf einen Hof. Ich sah Senta... apathisch daliegend, an einer schweren Kette. "Mutti!" sagte ich, "da ist Senta! Komm! Gehen wir hin! Bitte!" "Nein", sagte sie und nahm mich fest an der Hand. "Das würde alles nur noch schlimmer machen!" ### Aussiedlung - und Irmchens CoupEines Tages bekamen wir eine Ladung zum Amt, wahrscheinlich so etwas wie "Einwohnermeldeamt" - und man fragte uns: Wollen Sie aussiedeln - oder bleiben, aber mit polnischer Staatsbürgerschaft? Wieder wurden Wägelchen gepackt, zwei Handwagen mit den notwendigsten Habseligkeiten. Mutti nahm die gute Geige mit. Opa hatte Talg und Speck gesammelt. Oma hatte alles Geld in deutsches Geld umgetauscht und in ein Kleid eingenäht. Auch etwas Schmuck war im Besitz der kleinen Familie, verteilt in kleine Verstecke, die in den Kleidungsstücken verteilt waren. Wir mussten durch einige Kontrollen, wurden nach und nach gefleddert. Die letzte Kontrolle fand vor dem Abtransport im Viehwagen statt. Die Leiterwagen wurden samt Inhalt beschlagnahmt. Hier wurde auch die Geige weggenommen... Irmchen weinte. Ein Pole hatte Mitleid. Er fragte, ob sie selber Geige spiele, und nachdem sie die Frage bejahte, brachte er eine andere Geige... Die Lebensmittel waren alle weg. Da keine Leibesvisitationen vorgenommen worden waren, hatte die Familie aber das Geld und den größten Teil des Schmuckes behalten. Kurz vor der Abreise gelang Irmchen noch ein Coup, der eine Eigenschaft offenbarte, die uns auch in der weiteren Zukunft den Neubeginn sehr erleichterte, und wahrscheinlich letztlich auch ihr Leben rettete. Man hatte einen der Leiterwagen in der Nähe des abfahrbereiten Zuges stehen lassen, wohl irgendwie vergessen - und kurz entschlossen zog Irmchen ihn in den Waggon hinein! Unser Ziel: Ein Dorf in Sachsen, mit Namen Strauch, 10 km von Großenhain, nur zu Fuß oder mit dem Auto zu erreichen. An die Fahrt dorthin, den "Empfang" dort und die Einweisung in unser neues Quartier - an all das erinnere ich mich nicht. Absolut nichts. Und die Lücke in Irmchens Erzählung kann ich nun nicht mehr füllen... Aber an das Schloss erinnere ich mich sehr gut, dort wohnten wir dann ja auch über zwei Jahre, wahrscheinlich bis Ende 1948. Ein sehr schönes, geräumiges Gebäude, von einem herrlichen, großen Park umgeben. Hierzu ein kleiner Exkurs: Im Jahre 2011 fuhr ich nach Strauch. Ich suchte natürlich das alte Schloss, es war nicht zu finden. Durch Herumfragen erfuhr ich: Das Schloss hatte der kommunistische Gemeinderat 1949 abreißen lassen, dafür eine Baracke hingesetzt, die noch heute dort steht und als Kinderhort genutzt wird. Das erscheint mir symptomatisch für die damals entstehende Deutsche Demokratische Republik: Baracken statt Schlösser...
Tod mit PfeifchenErinnerungen an dieses Schloss, an das Leben in diesem Schloss - sind sehr lückenhaft, Gedankenfetzen, vermischt mit Träumen, die im Gedächtnis hängen blieben. Hier erlebte ich den zweiten Todesfall in der Familie, mein Vater ausgenommen, der - von mir unbemerkt - in den Weiten Russlands gefallen war. Die "Omamutter", wie ich sie nannte, also die Mutter meines Vaters, die oft mit mir spazierengegangen war, war noch in Bunzlau gestorben. Schemenhafte Erinnerung: Ich hatte die Verstorbene kurz gesehen, war auch bei der Beerdigung dabei. Sie war oft mit mir spazierengegangen; sie ist auf dem Hochzeitsfoto, links außen, Seite 22. Man erkennt die stark verdickte linke Wange. Ein Nerv war bei einer Operation verletzt worden, so ist meine Erinnerung... In der vielleicht verfälschten Erinnerung hatte ich einen Hauch von Ahnung bekommen, was der Tod bedeutet. Zumindest dass das Leben, das Sein, irgendwann ein Ende haben wird. Mein Großvater, der Vater meiner Mutter, Richard Hermann Sack, geboren 25. 10. 1887, verstarb am 19. September 1948 in dem Schloss in Strauch. Wir lebten dort im Erdgeschoss, rechte Seite: alle zusammen in einem sehr großen Zimmer, es gab noch einen kleineren Raum, wahrscheinlich als Küche genutzt. Meine Mutter und ich kamen von draußen herein, Oma war kurz vor mir hereingekommen... Opa lag auf dem Bett, aber nicht der Länge nach, sondern quer - er hatte offenbar auf dem Bett gesessen und war dann nach hinten gekippt. Irmchen wunderte sich, dass er in dieser seltsamen Lage seine Pfeife im Mund hatte... Es dauerte noch ein paar Sekunden, und sie rief: "Opa ist tot!" Die Oma wollte es nicht glauben, aber es dauerte auch nur Sekunden, bis ihr klar war: Ihr Mann war tot. Die beiden Frauen weinten. Ich stand eine Weile neben dem Opa, wieder mit diesem Gefühl, dieser Ahnung, was der Tod bedeutete. Er war wachsbleich, auf der linken Stirnhälfte war ein handtellergroßer blauer Fleck. Weitere Erinnerung habe ich nicht - aber ein Bild vom Grabe.
Ein SchlossgeistWas für Bilder... Erinnerungen habe ich von den über zwei Jahren in Strauch noch behalten? 1947 bis Dezember 1949... Traumbilder. Die Episode mit dem Elefanten war nicht ohne Folgen geblieben, der Elefant hatte einen ungeheuren Eindruck hinterlassen. Ich "erfand" in meinen Träumen Jumbo, den fliegenden Elefanten. Nein, es waren viele Elefanten, die mit ihren großen Ohren in einer Stadt herumflogen. Strauch war keine Stadt, nur ein kleines Dorf. Dem Elefanten war ich seinerzeit in Bunzlau begegnet... Bunzlau, die Stadt der fliegenden Elefanten... und nun lief ich in dem Schlosspark von Strauch herum, eine große Rute vor mich haltend, den "Rüssel" eines Elefanten... Einige Erinnerungsbilder, keine Träume, aber kaum davon zu unterscheiden. Ich hatte holzgeschnitzte Tiere, mit denen ich draußen im Sand spielte. Ein Junge, so klein wie ich, spielte oft mit. Einmal fehlten Tiere, und ich glaubte, der Junge hätte sie gestohlen. Als er beim folgenden Male mitspielen wollte, nahm ich beide Hände voll Sand und warf sie ihm ins Gesicht. Ich weiß noch genau, was für ein schlechtes Gewissen ich in den folgenden Tagen hatte. Vielleicht lernte nich damals dieses Gefühl erstmals kennen - wie es sich in Brust und Bauch ausbreitete und einlagerte. Eine geradezu schmerzende Mahnung an die eigene böse Tat. Irgendwie war mir klar, das war nicht richtig gewesen, verschlimmert wurde alles noch von den aufkeimenden Zweifeln, ob der Junge die Tiere überhaupt gestohlen hatte - oder ob sie vielleicht auf andere Weise verschwunden waren. Als ich ihn ein paar Tage später wieder traf, war alles gut. Er hatte sich in die Hosen geschissen und ich half ihm, dieselben provisorisch zu säubern. Ich beschaffte zu diesem Zweck Papier und eine Unmenge von Blättern. Es war eklig, aber mit dieser Hose säuberte ich gleichzeitig mein Gewissen. Aber noch eine schmerzende Erinnerung. Wir hatten eine Gans,
die uns immer vor Freude schreiend entgegenkam. Es war das erste Weihnachten
in Strauch, Opa lebte noch. Er, der Fleischermeister, konnte die Gans nicht
schlachten. Er ging zu einem Bauern und tauschte sie gegen ein halbes
Schwein... Im Schloss hatte ich Albträume. Dort geisterte nachts eine Frau herum; sie hatte einen Kürbiskopf, der von Innen leuchtete. Eine Fratze, mit einem riesigen, grinsenden Mund... "Besuchte" mich dieses "Gespenst" in der Zeit, als Irmchen weg war? Als sie in Bunzlau im Gefängnis war?
... wenn der Teufel höhnisch lachtEines Tages bekam Irmchen Post aus Bunzlau, von Litkowski - jener Mann, bei dem sie sich wegen der Wohnungssituation beschwert hatte, der geholfen hatte... Die beiden waren sich näher gekommen... Nun schickte er ihr einen Ledergürtel, in dem waren 2500 Złoty in Scheinen, irgendwie eingenäht. Und ein Liebesbrief. In Polen gab es zu essen, wenn man Geld hatte. Deswegen... na ja, und wohl auch wegen des Liebesbriefes - wollte Irmchen nach Polen fahren, nach Bunzlau, nach Bolesławiec... Als Irmchen weg war, hatte Oma einen Traum: Irmchen war in den Raum getreten, hatte Gefangenenkleidung an und einen kahlgeschorenen Kopf... Irmchen ließ sich gegen Bezahlung über die Grenze führen. Durch unwegsames Gelände, dort, wo die Neiße nicht tief war. Eine Frau mit Kind war dabei. Das Kind schrie, und daher wurden sie von der Grenzpolizei aufgegriffen. Sie kamen in ein Auffanglager. Den "unverdächtigen" Gürtel samt den eingenähten 2500 Złoty konnte sie behalten. Man sagte ihr, sie werde wohl etwa drei Wochen bleiben müssen, dann aber nach Deutschland zurückgeschickt werden. Gleich am ersten Tag im Lager mussten sich die Gefangenen, die Internierten - wie man es nennen mag - in Reihen aufstellen. Die Polen konnten sich hier Arbeitskräfte aussuchen. Am zweiten Tag wurde Irmchen vom Oberbürgermeister von Görlitz ausgesucht; sie sollte in seinem Haushalt arbeiten. Seine Hausgehilfin hatte gerade ihren Dienst quittiert, weil sie heiraten wollte. Die Frau des Bürgermeisters war nett, kultiviert. Komfortables Haus, es gab reichlich zu essen, und Irmchen konnte sich im polnischen Teil von Görlitz frei bewegen. Sie arbeitete gut, man wollte sie gern behalten. Der Mann versprach, sie könne zweimal monatlich nach Deutschland fahren und Lebensmittel mitnehmen. Irmchen hätte ja nun zustimmen können und bei der ersten Heimreise einfach in Deutschland, in Strauch, bei der Familie bleiben können. Weil die Leute nett waren, sagte sie aber die Wahrheit, also sie lehnte ab, weil sie zur Familie zurück wolle... Der ,,Oberbürgermeister“ hatte diese Funktion nicht nur in der Stadt Görlitz, sondern im ganzen Distrikt, und so musste er überall herumfahren. Als er einmal nach Bunzlau fuhr, nahm er Mutti mit. Sie hatte oft von Bunzlau erzählt.... Sie sollte zu einer bestimmten Zelt desselben Tages wieder dort sein, wo er sie abgesetzt hatte, an einer bestimmten Apotheke... Aber es sollte anders kommen... In der Nacht zuvor hatte Irmchen einen Traum gehabt: ein boshaftes teuflisches Lachen im linken Ohr - und die teuflische Ansage: ,,Jetzt hab ich dich!“ Dann war sie mit wild klopfendem Herzen aufgewacht. Sie hatte sich aber bald wieder beruhigt. Was sollte ihr denn passieren? - hatte sie gedacht. Die Frau des Bürgermeisters gab Irmchen einen Trenchcoat-Mantel mit, damals ein sehr wertvolles Kleidungsstück. Mit im Auto bei dieser Fahrt nach Bunzlau war ein polnischer Offizier, Irmchen saß hinten. Sie freute sich, ihre Heimatstadt wiederzusehen. Bunzlau liegt in einer hügeligen Landschaft. Das Rathaus bzw. der Marktplatz ist von alten Fachwerkhäusern umgeben. Die katholische Kirche hat Zwiebeltürme, die evangelische einen spitzen Turm. Auch das Rathaus hat einen Turm. Es ist alles recht malerisch, meinte Irmchen, und das kann ich bestätigen. Die Polen haben das Stadtbild bewahrt, nichts durch hässliche Neubauten versaut. Als wir in Bunzlau anhielten, stieg der Bürgermeister aus, schaute sich um, nickte, sagte Bolesławiec und dann: ,,Bunzlau“. Man vereinbarte einen Treffpunkt, um 16 Uhr vor einer Apotheke. Bunzlau, schöne, liebliche Heimatstadt... aber für Irmchen nun ein heißes Pflaster. Sie war ja bekannt, und man wusste auch, dass sie ausgesiedelt worden war. Und es gab eine Erzfeindin, Litkowskis Ehefrau... Auch bei der Fleischerei, wo Senta an der Kette lag, war sie nicht gerade beliebt... Vielleicht war sie auch in dem Café gesehen worden, in dem sie Litkowski für kurze Zeit traf? Als sie dann gegen 16 Uhr auf das Auto wartete, hielten auf einmal zwei große Motorräder; man wollte die Papiere sehen. Der Bürgermeister und der Offizier, die sie gerade abholen wollten, wurden auch verhört, durften aber fahren. Irmchen kam in ein Gefängnis, in einen Keller, Zelle Nr. 8. Alles war vergittert.... Und lachend rief der Teufel: "Jetzt hab´ ich dich!" In diesem Keller waren nur politische Gefangene. Mit in der Zelle ein bildhübsches, etwa 15jähriges polnisches Mädchen; sie sah aus wie eine Inderin, konnte etwas deutsch, und so konnten sie sich unterhalten. Ihr Freund hatte im Streit einen Milizionär erschossen ... Hm, aber warum war das Mädchen dort? Es hat immer den Namen ihres Freundes geweint, ,,Juurek, Juurek..." - Irmchen hat mitgeheult. Sie wurde ganz "normal" behandelt; sie war gefangen, aber es passierte - vorerst - nichts Besonderes. Sie arbeitete, teilte zum Beispiel Essen aus, fegte den Keller. Früh gab es Brot und "Kaffee", mittags immer weiße oder braune Bohnen, abends wieder ein Stück Brot. Sieben Wochen war sie dort unten. Dann hat die polnische Reinemachefrau gebeten, dass jemand oben in den Büros hilft, und das war dann Irmchen. Man konnte auch von dort nicht ohne Schlüssel das Haus verlassen. Hinten war auch eine verschlossene Tür und der Hof wurde von einer etwa drei Meter hohen Mauer begrenzt, oben Stacheldraht. Vorn die Straße - und ein Wachhäuschen mit Posten. Das blutrote Zick-ZackUm 11 Uhr vormittags war die Arbeit in den Büros beendet und Irmchen wurde wieder in ihre Zelle geschlossen. Einmal holte sie ein Offizier zum Autowaschen, sie bekam dafür eine herrliche Mahlzeit. Ein andermal klaute Irmchen Brötchen von einem Tablett der Angestellten. Danach stritten die sich, wieviele Brötchen es waren. Schließlich fragte einer: ,,Irka, du Brötchen nehmen?“ Irka gab es zu. Der junge Mann brachte dann tagelang seine Brötchen zur Irka. Sie hätte dem Mädchen auf ihrer Zelle gern von den Brötchen abgegeben, befürchtete aber, dass die „Bevorzugung“ bekannt und der junge Mann bestraft würde. Daher gab sie dem Mädchen lieber vom eigenen Brot, das es in der Zelle zu essen gab. Einmal holte sie nachts der Direktor aus der Zelle – sie sollte in seiner Villa aufwischen. Die Villa war direkt neben dem Gefängnis. Als sie fertig war, sollte sie an sein Bett kommen. Sie hat ihn ein bisschen gestreichelt und er ist gleich eingeschlafen... Sie hätte nun leicht ausreißen können, meldete sich aber zurück; sie war überzeugt, man würde sie bald entlassen. Das war ein Irrtum. Wenig später merkte sie, dass es irgendwie gefährlich wurde. Sie musste nachts zum Verhör, sollte zugeben, dass der Ehemann bei der Gestapo oder bei der Waffen-SS gewesen war. Auf dem Tisch lagen zwei Pistolen, angebliche Beweisstücke. ,,Was haben Sie denn bloß gemacht, mit diesen Pistolen, die haben Sie vergraben“ - sagte der vernehmende Offizier. Irmchen fühlte, wie sich die Schlinge zuzog, das drückte ihr den Hals zu. Sie versuchte beim Arbeiten außerhalb der Zelle Gesprächen zu lauschen. Immer wenn jemand kam, hat sie sich versteckt, und so gelang es, einmal das Gespräch des Direktors mit dem Wärter Sowotha mitzuhören, polnische Wortfetzen: "Matka nimne" (Mutter nicht mehr da, womit wohl Irmchens Mutter, meine Großmutter, gemeint war). Und weiter, was sie auf polnisch verstand: Wenn das Haus von Bomben zerstört wird, dann kann man nichts mehr machen, aber wenn es von Granaten zerstört wurde, dann kann man sagen, Partisanen waren das... Das war natürlich Unfug, aber so wurde Irmchen zur "Partisanin". Wenn auch kein Name genannt wurde - so verstärkte sich nach diesem "Lauschangriff" das Gefühl, die Schlinge ziehe sich immer weiter zu... Und es folgten weitere Verhöre - immer in der Nacht. Der Wärter schlug sie manchmal von hinten, so ein Ding mit einer Spirale und mit mit drei kleinen Kugeln. Sie gab nichts zu, weil es nicht stimmte. Sie sah den Aufseher vorwurfsvoll an, der sagte, sie solle ihn nicht so ansehen. Das Schlagen tat weh, war aber nicht ausgesprochen brutal. Irmchen: Der Aufseher erfüllte wohl einerseits seine Pflicht, war aber offenbar innerlich gespalten. Zu gleicher Zeit hörte sie aber (beim heimlichen Lauschen) auch
Schmeicheleien, der Wärter schien etwas von ihr "zu wollen"... Bei einem Verhör
musste sie 10 Minuten nackt in einer Tonne mit kaltem Wasser stehen. Sie hat
keinen Mucks gesagt. Die kleine Polin auf der Zelle meinte, weil Irmchen nackt
gewesen war: ,,Irka, Irka, so eine Schande.“ Das hat ihr nichts ausgemacht? "Trotz allem", so erzählte Irmchen, "hatte ich gar keine große Angst." Aber wo war die Schlinge geblieben, die sich immer mehr am Halse zuzog? Die Angst habe auch nicht zugenommen, als ein Deutscher eingeliefert und furchtbar geschlagen wurde; er hat entsetzlich geschrien... Natürlich litt sie unter der Gefangenschaft und der Ungewissheit, was mit Oma war, angeblich sei sie auch verhaftet worden. "Matka nimne" - dass die Mutter nicht hier (in Bunzlau) sei, hatte sie zwar Tage zuvor bei einem der "Lauschangriffe" gehört, aber der Großmutter konnte man zutrauen, dass sie sich auf die Suche nach ihrer Tochter begeben hatte... Und Irmchen litt auch unter den hygienischen Verhältnissen. In den Schlafdecken waren Filzläuse, und wenn sie die Regel hatte, bekam sie von der Reinemachefrau ein paar Lappen. In jenen Tagen, in diesem vergitterten Keller, hatte sie einen Traum: Sie schwamm im trüben, schmutzigen Wasser, aber die Sonne schien - und die Landschaft war hügelig, mit Wiesen überzogen. Sie konnte in die Sonne schauen - ihr Licht war zwar hell, aber "milchig"... Und in dieser milchigen Schreibe war ein unbeweglicher roter Zick-Zack, wie ein gemalter Blitz. Irmchen stieg aus dem Wasser, lief, mit ausgebreiteten Armen, auf die Wiese, der Sonne entgegen. Plötzlich konnte sie fliegen, es war wie "Schwimmen" in der Luft. Und dann war da ein Riesenbett mit der Oma und Irmchen rief: ,,Ach, Mutterle, jetzt bin ich wieder bei dir!“ - Beim Aufwachen dachte sie: Entweder sterbe ich, oder ich komme frei. Vielleicht zeigte das "Traumbewusstsein" mit diesen Bildern genau dies: Dass nämlich beide Möglichkeiten gleichermaßen bestanden? Man hatte unter den Gefangenen ausgestreut: Wer nach Liegnitz kam: geringe Strafe, nach Wrozlaw: ein paar Jahre; Warschau: Lebenslang oder Todesstrafe... Die Reinemachefrau wollte Mutti wieder zur Hilfe ausschließen lassen. Nun hieß es aber: Niemki ni wollno - sie durfte nicht mehr aus der Zelle ausgeschlossen werden... Jetzt schien Irmchen also wirklich gefangen, ohne Hoffnung? Der andere Wachposten, der den ersten kurz darauf ablöste, wusste offenbar nicht, dass sie nicht mehr aus der Zelle durfte, und er ließ Irmchen hinaus, nach oben in die Büros, damit sie der Reinemachefrau helfe. Es war noch vor acht Uhr morgens. ### Die Flucht, freundliche Polen und glückliche RückkehrIm Büro saß ein Zivilist und schrieb mit Schreibmaschine. Irmchen schlich, ihrem Instinkt folgend, in einen anderen Raum; schaute auf die dort auf dem Schreibtisch liegenden Papiere. Auf einem standen drei Namen, zwei polnische - und ihr Name, mehr nicht. Ein anderer Angestellter kommt zu dem Zivilisten ins Büro nebenan (Irmchen lauscht) und er fragt auf Polnisch: ,,Was wird mit denen?“ Antwort: "Zwei nach Liegnitz, zwei nach Breslau und eine Frau nach Warschau." Irmchen war die einzige Frau in dem Gefängnis, das polnische Mädchen war schon weg... "Nach Warschau?" Der Zivile machte irgend eine Bewegung mit dem Fuß, und da war der andere ruhig. Mutti eilte in ein Nebenzimmer, das sie schnell hinter sich verschloss - und heulte. Dort lag wieder ein Zettel: Exner onski do advokat. Sie hörte auch, wie ein Aufseher in polnisch sagte: „Matka muss 4 Jahre nach Breslau, die Tochter ist erledigt.“ Die Reinemachefrau sah wie Mutti weinte und sagte zu jemandem: ,,Was ist los mit ihr, sie heult dauernd.“ Mutti nahm einen Besen in die Hand, ging die Treppe hoch zum 1. Stock, schaute bei einem der Räume durchs Schlüsselloch, ob jemand drin war - der Raum war leer. Sie ging wieder einen halben Stock tiefer. Eigentlich wusste sie nicht wohin, sie lief "wie geführt". Dort auf halber Stockwerkshöhe war ein Fenster; sie öffnete es und zwängte sich durchs Gitter, über eine Alarmleitung, zog das Fenster hinter sich zu, es war eigentlich "unmöglich", sie fand irgendwie Halt auf dem Sims, stand auf der Alarmleitung, und der Alarm ging los. Sie hörte nun Stiefel trappeln. Sie konnte jetzt nur noch "weiter", gelangte auf ein Vorderdach, glitt an dem schrägen Dach langsam hinab - sprang und landete unten auf den Füßen, so, dass das Kinn auf den Knien aufschlug. Nun schaute sie zum Fenster hoch, war wie erstarrt, dachte: Jetzt schauen die gleich zum Fenster raus und schießen. Plötzlich redete Oma laut im linken Ohr: Geh` und steh nicht! - Genau, wie es Oma sagen würde. Als wäre sie ganz nah, halb hinter ihr stehend. Irmchen trug ein rotes Kopftuch, einen kleinkarierten Bauernrock, ein kurz tailliertes Jäckchen (eher eine Bluse) - leichte, aber Gott sei Dank feste Schuhe. Die Wintersachen waren jedenfalls im Keller, und draußen lag Schnee, in dem Hof allerdings nicht. Sie kletterte kurz entschlossen auf den mit Stacheldraht bewehrten, etwa drei Meter hohen Zaun. Da kam gerade ein deutscher Zivilgefangener vorbei, dem klappte der Mund auf... Irmchen sagte: ,,Verrate mich nicht, ich soll nach Warschau.“ Er stammelte: “Nein, nein, ich sage nichts.“ Irmchen sprang auf der anderen Seite hinunter, ihre Hände bluteten. Sie rannte einen Weg entlang, der durch Schrebergärten führte, kam dann zu
einer leeren Fabrik mit Namen ,,Concordia“. Sie irrte in dem Gebäude umher -
lief dann weiter Richtung Görlitz, also Richtung Grenze, aber nicht auf der
Landstraße, sondern links am Bober entlang. Das war aber die "falsche" Seite:
Die nächste Brücke, die sie hätte überqueren müssen, war zerstört. Sie musste
zurück, versteckte sich in einer Scheune. Es war sehr kalt, und sie hatte schon
etwas Fieber, und die Lymphknoten waren geschwollen. Es kamen einige Männer mit
Mistgabeln, um Heu zu holen, Irmchen wurde aber nicht entdeckt. Sie lief
weiter, es fing an zu schneien. In einem abgelegenen Schuppen fand sie endlich
eine dicke Männerjacke, eine Hose und ein Tuch. Es wurde dunkel - und sie
erreichte Tillendorf (Kreis Bunzlau, am Bober). Dort waren große Bauernhöfe...
Plötzlich stand ein Mann vor ihr und sagte: „Irka? Irka?“ Sie zögerte einen
Moment. Eigentlich waren während ihrer Gefangenschaft viele auf ihrer Seite
gewesen, aber man konnte ja nie wissen... sie sagte schnell: Nie, nie,
flüchtete auf einen Bauernhof, versteckte sich dort eine Weile und lief weiter,
nun, im Dunkeln, auf der Landstraße. Auf einmal tauchte der Lichtkegel von
einem Auto auf, sie legte sich im Straßengraben lang hin. Aber es war
Neuschnee, von der Straße aus waren ihre Fußspuren zum Graben hin deutlich zu
sehen - wenn die darauf achten, dann haben sie mich, dachte sie... Aber das
Auto fuhr vorüber. Als dann noch einige andere Autos kamen, achtete sie darauf,
dass sie in Spuren lief und, wenn nötig, ihre eigenen Spuren noch verwischen
konnte. Sie hatte Hunger. Beim nächsten besten Haus klopfte sie an und
bettelte: Proshe pani chleba... Die Frau gab ihr ein halbes Brot und viel
Speck. Sie fand eine große Scheune, versteckte sich im Heu, konnte dort
einschlafen - blieb auch den folgenden Tag dort. Bei Einbruch der Dunkelheit
lief sie weiter. Im nächsten Dorf sah sie in einer beleuchteten Stube einen
Mann, der vor dem Kruzifix betete - auf dem Tisch lagen Brot und Wurst. Irmchen
klopfte, wurde freundlich empfangen und konnte essen und trinken soviel sie
wollte. Der Mann bereite ihr ein Fußbad; sie durfte die Strümpfe am Ofen
trocknen und bekam eine Schlafstelle angeboten. Sie hatte trotz allem Angst,
war aber sehr müde. Plötzlich ein dumpfer Schlag gegen eines der Fenster. Vor
Schreck fasste sie den Mann an, bat ihn, er möge sie hinten hinausführen. Er
beruhigte sie, sah nach und zeigte ihr eine Katze, die das Geräusch verursacht
hatte. So ging das ein paar Wochen lang. Dann kamen eines Tages Milizionäre vorbei, redeten leise mit mit den Männern dort. Irmchen war nun ja schon darin geübt, durch Heranschleichen und Lauschen herauszubekommen, was sich zusammenbraute. Sie hörte durch ein Fenster, was die Milizionäre redeten: ,,Nimka do Schorselitze.“ (Görlitz) Nun war klar, sie musste fliehen. Sie nahm einen Eimer, obwohl die Pumpe zugefroren war, ging im Gebäude herum. Bürgermeister sagte, sie dürfe nicht weggehen, aber es sei noch Holz hereinzuholen. Der Bürgermeister erklärte dann, es bestünde Anweisung, dass sie in einer Woche nach Görlitz gebracht werden solle. Klar, sie hätte fliehen müssen, aber sie tat es nicht... Nach einer Woche erschienen zwei Milizionäre mit dem Auftrag, Irmchen nach Görlitz zu bringen... zu Fuß. Sie kannte die beiden Männer von dem vorigen Besuch schon etwas und sagte auf Polnisch: ,,Gleich zwei Bewacher!" Sie lachten. Der Bürgermeister gab ihr belegte Brote und ein Stück Speck mit. Auf dem Weg nach Görlitz verschwanden die beiden in ein Haus, wo sich viele Milizionäre aufhielten. Es war schon dunkel - Irmchen sollte vor dem Haus warten, verschwand aber lieber in die Büsche, das bemerkten ihre beiden Bewacher bald, und sie schossen mit Leuchtkugeln – sie floh Richtung Neiße, erreichte den Fluss auch. Da die Schneeschmelze eingesetzt hatte, war Hochwasser. Als sie Pferdegetrappel hörte, versteckte sie die Jacke und das Brotpäcken im Schilf, nur den Speck behielt sie - und sprang ins eiskalte Wasser. Sie wusste, dass dort schon viele ertrunken waren, auch kräftige junge Männer - die Kälte, die starke Strömung... Aber sie schaffte es! Sie erreichte das andere Ufer. Dort fiel sie auf die Knie und betete. Die Strömung hatte sie ganz woanders hingetrieben als geplant - dort war Sumpf, sie sank immer wieder tief ein. Aber auch hier kam sie durch. Bei der ersten menschlichen Behausung, die sie erreichte, bat sie um ein Fußbad und ein heißes Getränk. Sie durfte sich auch waschen und die Sachen trocknen. Dann lief sie weiter - hier wird es nun etwas ungenau. "Dann weiter und in Polizeizelle übernachtet" - habe ich notiert. Hatte sie sich bei der Polizei gemeldet? Was für eine Geschichte hat sie dort erzählt? Bei der Polizei war sie keine Gefangene, aber frei war sie offenbar offenbar auch nicht. Man steckte sie nämlich in ein Quarantäne-Lager, von dort aber riss sie wieder aus. In einem Geschäft bettelte sie um etwas Geld, man kam ins Plaudern - und sie erzählte alles; der Mann gab ihr 50 Mark. Dass reichte, um auf ziemlich normale Weise nach Hause zu kommen. Bei einer Kontrolle kam sie mit den beiden Polizisten ins Plaudern - und erzählte wieder die ganze Geschichte (außer, dass sie schon vorher in Deutschland gewesen war). Die freuten sich diebisch, dass sie ausgerissen war. Dann, endlich, kam sie nach Strauch. Sie rannte durch das große Schlosstor.. Oma kam gerade die Stufen hinunter... und und sagte: "Willste Marmelade oder Sirup?" - so, als wäre Irmchen eine halbe Stunde weg gewesen. Dann aber fielen sie sich in die Arme und heulten. "Wo warste denn die ganze Zeit", fragte Oma. Irmchen antwortete nicht sofort. Sie ging langsam, zögernd, ja schüchtern in unsere "Schlosswohnung", hatte plötzlich unsere Not vor Augen und ein schlechtes Gewissen, weil sie nichts nach Hause gebracht hatte. Nun erzählte sie alles, diesmal wirklich alles...
... und wieder eine FluchtWir hatten noch die Schmuckstücke, die vor der Flucht in Kleider eingenäht worden waren. Irmchen verkaufte eines oder mehrere davon in Großenhain, aber sie merkte schnell, dass das ein schlechtes Geschäft gewesen war. Das war vor der Währungsreform, gewissermaßen "Inflationsgeld". Und in Strauch waren wir als Fremde nicht sehr beliebt. Die Bauern verlangten "irre" Preise für Lebensmittel. Das Geld war schnell alle, und die beiden Frauen entschieden, den restlichen Schmuck zu diesem Zeitpunkt nicht zu verkaufen. Nachts gingen Irmchen und Oma manchmal klauen; sie waren aber vorsichtig, nie zuviel. Ein Versuch schlug fehl, weil die als Beute auserkorenen Bohnen in der Nacht schlecht zu sehen waren. Der riskante Versuch am helllichten Tage gelang dann aber. Einmal war Irmchen alleine klauen, war aber sehr müde - und schlief auf dem Felde ein, wachte erst am Morgen auf... Außerhalb der Ortschaft gab es sehr viel Äpfel, oft aber waren Stacheldrahtzäune davor. Irmchen und Oma machten sich tagsüber mit dem Leiterwagen auf den Weg, sammelten Fallobst. Am Ende war der Wagen vollgepackt mit Säcken voller Äpfel. Ein Mann fragte, wieviel sie für die Äpfel bezahlt hätten. Oma sagte vor Schreck die Wahrheit, und Irmchen dachte, nun gäbe es große Probleme. Aber der Mann feixte: ,,Das geschieht denen recht, die können sonst ja nicht genug kriegen.“ Irmchen war immer auf Suche nach Lebensmitteln. Einmal pflückte sie bei einem Dorf irgendwo zwischen Strauch und Großenhain Pflaumen von einem Baum, dessen Aste über den Zaun hingen. Ein Frau beobachtete sie, kam dann hinzu und sagte: ,,Der Müller hat genug davon, nehmen Sie mal ruhig.“ Doch diese Frau hat sie aber wohl verraten, denn bald kam die Polizei. Man nahm sie mit, fragte nach Namen, Adresse... Mutti machte falsche Angaben: ,,Großenhain, Beethovenstraße 12“ Der Polizist ging aus dem Raum um zu rauchen. Der andere Polizist saß im Nebenzimmer am Schreibtisch - er sollte aufpassen... Irmchen sprang aus dem Fester, dann war da noch ein Zaun, der aber im Vergleich zu dem Gefängniszaun in Bunzlau kein Hindernis darstellte - und weg war das Irmchen... Sie schlich sich auf Umwegen nach Hause, kam bei Dämmerung an. Oma hatte schon große Angst... In welchem Jahr spielten sich das alles ab? Ich denke 1946, vielleicht schon 1947. Jedenfalls war es Sommer 1947, als Irmchen Post von ihrer Jugendfreundin Brunhilde bekam. Sie sei in Röntgental (liegt liegt direkt an der Grenze zu Berlin, zwischen Berlin-Buch und Bernau, gehört heute zur Gemeinde Panketal) - wir könnten auch kommen, schrieb sie, bräuchten nichts mitbringen, alles sei da... Wow! ### Das neue ZuhauseIrmchen fuhr erst einmal für ein paar Wochen zu Besuch nach Berlin, genauer:
nach Röntgental, an der Stadtgrenze von Berlin (gehört heute zur Gemeinde
Panketal). Da lernte sie, wie Geschäfte gemacht werden. Brunhildes Mann Walther
kaufte in den Dörfern Getreide ein, das konnte man gegen alles tauschen. In der
Stadt bekam man zum Beispiel Zwiebeln für Geld, Getreide nicht... Fazit: In
Berlin merkte Irmchen schnell, was die Leute brauchten, wie man Geschäfte
machen kann. Aber zuerst musste sie zurück nach Strauch - die Familie holen...
Offensichtlich konnte man damals nicht einfach irgendwo einziehen. Die Behörden
hatten ein Wörtchen mitzureden. Einerseits verständlich, weil nach dem Kriege
und wegen der vielen Flüchtlinge die Wohnungen sehr knapp waren... Aber
andererseits... Walther kannte viele Leute; er drehte die Sache so, als hätte
man getauscht - so bekamen wir das kleine Häuschen in der Lindenallee 8, aus
dem gerade Leute ausgezogen waren. Die Vorgänger verlangten Abstand, obwohl sie
selbst nur Mieter waren. Dadurch hatten wir gleich Schulden bei Walther.
Zeitlich gesehen ging es nun ins Jahr 1948... "Geschäfte machen" und in einem
"Arbeitsverhältnis" arbeiten lief einige Zeit parallel. Zeitweise arbeitete
Irmchen in Ostberlin als Verkäuferin, siehe die Abbildungen rechts, ihr
Arbeitsbuch.
Rin in die Kartoffeln, raus aus die KartoffelnDer Umzug war mit ,,Kartoffelhandel“ finanziert worden: Auf dem Lande eingekauft und in Berlin verkauft. Das ging eine ganze Weile so, und als dann 1949 die Währungsreform kam... genauer: die Währungsreformen, wurden die Geschäfte noch einträglicher: Auf dem Lande einkaufen mit Ostmark, in Westberlin für Westgeld verkaufen... Dadurch hatten wir Westgeld, und weil der Kurs zeitweise 1:7 war: relativ viel Ostgeld. Einmal machte Irmchen eine Extra-Tour über Dörfer, um ein Fahrrad zu klauen. Auf dem Weg nach Hause winkte eine Polizistin sie heran. Irmchen dachte, es sei nun aus. Aber die Polizistin sagte: ,,Sind Sie nicht aus Bunzlau?“ (Kannte Mutti als Kind). Irmchen machte bald auch mit Eiern und Heringen gute Geschäfte: Sie kaufte auf dem Lande immer 100 bis 200 Eier auf, dafür bekam sie in Westberlin das doppelte, kaufte dafür in der Stadt Salzheringe, die sie nun wieder in den Dörfern günstig verkaufen oder in Eier umtauschen konnte... Die Schulden bei Walther waren bald getilgt. Irmchen fuhr immer mit dem Fahrrad auf die Dörfer. Viele fuhren mit LKW-Stop: Für fünf Mark wurden Gruppen mitgenommen. Einmal, im Berliner Grenzgebiet auf östlicher Seite, versprach ihr ein Schwarzhändler einen besseren Umtauschkurs West gegen Ost (weil er keine Steuern zahle). Irmchen sollte draußen warten - aber das Haus hatte drei Ausgänge. 500 Westmark waren futsch. Das war damals ein Haufen Geld. Brunhilde fing später mit Kaffee an. Sie hat im Westen ganzen Kanister voll gekauft, damit fuhr sie über Land... das war auch ein sehr gutes Geschäft. Kaffee war sehr begehrt. Einmal brachte sie ganzen Sack aus Westberlin mit, doch kurz vor Röntgental wurde sie von der Polizei gestoppt. Es gelang ihr, den ganzen Sack blitzschnell in einen Laubhaufen zu werfen... Das haben die Polizisten nicht mitbekommen, das heißt: Schon mitbekommen, sie hatten Brunhilde mit dem Sack gesehen, aber sie wussten nicht, wo der Sack geblieben war. Sie drohten, sie dazubehalten, wenn sie nicht erkläre, wo der Sack geblieben war... Brunhilde gab nach, zeigte das Versteck.... Die Polizisten fertigten kein Protokoll an usw. - der Sack war ihre Beute. Ein andermal wurde Brunhilde an der Grenze mit einem Dutzend Beuteln Kaffe angehalten und zur Kontrolle mitgenommen. Irmchen ging hinterher, es war schon halbdunkel. Brunhilde gelang es, einen Beutel nach dem anderen unbemerkt fallen zu lassen, Irmchen sammelte alles auf. Nicht zu fassen...
Kaffee, Korruption und KnastEinmal wurde Irmchen mit 200 Eiern erwischt und sollte 500 Mark Strafe zahlen. Sie ging zum Landratsamt (wahrscheinlich Bernau) und fragte, ob sie die Strafe nicht 5-Mark-weise abzahlen könne. Der Beamte war so ein kleiner Dicker; er kam in den Raum, wackelte frech mit seinem Bauch und sagte nur: ,,Na, Sie kleine Schieberin?“ - und genehmigte die Zahlweise... Diese Lebensweise blieb Irmchen eine ganze Weile erhalten, und uns ging es ganz gut. Wir kauften - auch in Röntgental, in der Ahornallee - ein Grundstück für 2000 Ostmark. Der Bau des Häuschens war auch nicht viel teurer, finanziert vom Verkauf des aus dem Krieg geretteten Schmuckes und durch neu angespartes Geld. In dieser Zeit hatte Irmchen einen Freund mit Namen Jochen... die Beziehung dauerte nicht lange - er wanderte nach Australien aus. Die einzige Erinnerung an ihn: Er war einmal zu Besuch in Röntgental, in der Lindenallee 8. Er hatte mir ein Geschenk mitgebracht, ich weiß nicht mehr was. Als ich sagte: "Det is schau!" lachte er sich kaputt. Aus seiner Sicht war "schau" ein neues Wort im Berliner Slang gewesen - und schon war es im Munde eines siebenjährigen Jungen, der in Röntgental wohnte... Jochen hatte meiner Mutter angeboten, mit nach Australien zu gehen. Das kam schon deswegen nicht in Frage, weil Irmchen ihre Mutter nicht hier allein zurückgelassen hätte. Aber wenn doch... da wäre mein Leben ganz anders verlaufen. Vielleicht nicht schlecht, irgendwo an der langen Küste dieses Kontinents. Vielleicht aber auch schon tot nach dem Biss einer giftigen Qualle... 1952 zogen wir von der Lindenallee 8 in die Ahornallee 23. Ein kleines Häuschen, solide gebaut, das noch heute seinen Dienst tut... Die Bilder zeigen das Häuschen mit Grundstück und Szenen auf dem Grundstück und davor... dann meine Großmutter, die gerade das Grundstück verlassen hat, dann zweimal Irmchen. Die zweite Bildreihe muss auch nicht groß erklärt werden. Links eine meiner Geburtstagsfeiern, wahrscheinlich 1953, als ich 13 wurde... dann ein Bild mit Großmutter und ich allein zweimal im Garten.
Irmchen blieb aber das neue Zuhause nicht lange erhalten. 1953 wurde ein schicksalsschweres Jahr, sowohl im Großen als auch für Irmchen... Das erste "Ding", was da kam, war noch nicht ausschlaggebend... In Westberlin kaufte sie auf der Straße von einem Schwarzhändler 5 Pfund Kaffee. Beide wurden verhaftet. Der Mann hatte kein Geschäft, aber ein ganzes Lager voller Kaffee. Der Polizei erzählte er, er sei aus Sachsen, und diese fünf Pfund Kaffee habe er hier nur abgegeben; er verlangte sogar noch seine Aktentasche mit Kaffee zurück - und er bekam sie auch! Wenn der freikommt, dann passiert mir erst recht nichts, dachte Irmchen. Sie aber kam nicht frei, sondern vor Gericht - und wurde zu drei Monaten Gefängnis ohne Bewährung verurteilt. Keine Vorstrafe - und dann "ohne Bewährung"! Sie habe nicht gewusst, dass es strafbar sei, den Kaffee zu kaufen, erklärte sie. Der Richter: "Wenn Sie in Röntgental bei Berlin wohnen, dann wissen Sie, dass das strafbar ist!" Nun ja, recht hatte er, der Richter, sie wusste es, aber die Erklärung des Richters war nur eine Vermutung, kein Beweis. "Vermutungen" über den Verkäufer waren wohlweislich nicht angestellt worden, der hatte das Kaliber, die Polizei zu bestechen... Der Richter fragte auch: „Wie kommen Sie zu einer Schweizer Uhr?" Antwort: „Die habe ich von meinem Freund bekommen..." - was richtig war. Es war das Abschiedsgeschenk gewesen von Jochen, der nach Australien ausgewandert war. Der Richter: „Das können Sie mir nicht erzählen...“ Das eigentliche Übel war nun aber, das eines der Berliner Boulevard-Blätter den Ritt von Polizei und Gericht mitspielten: Den Großen laufen lassen, den Kleinen an den Pranger stellen, um so der Öffentlichkeit vorzugaukeln, dass Recht und Ordnung herrschen. ###Willi von der PolizeiWir in Röntgental, meine Großmutter und ich, waren zum zweitenmal mit der Tatsache konfrontiert, dass Irmchen plötzlich verschwunden war. Sie konnte uns ja nicht benachrichtigen, weil sie wusste, in der DDR wird Post kontrolliert. Und "Schwarzhandel" wurde dort wie ein Schwerverbrechen bestraft... Großmutter hörte sich um. Sie fand bald heraus, was passiert war. Sie besuchte den Richter - der warf sie hinaus; zur anderen Tür kam sie wieder herein. Er warf sie wieder raus - und sie kam wieder rein... Es half natürlich nichts. Die drei Monate Knast müssen Irmchen ziemlich zugesetzt haben, obwohl das alles viel harmloser war als das Abenteuer in Bunzlau. Als sie entlassen wurde, hatte sie 15 Pfund verloren... Meine Vermutung: Das offensichtliche Unrecht unter rechtsstaatlichem Vorzeichen kann genauso belastenden wie eine ganz offensichtliche rechtswidrige Haft unter zum Teil menschenunwürdigen Bedingungen. Von Kaffee hatte Irmchen nun die Nase voll, sie stieg auf Geldwechsel um. Zuerst hat sie sich angeguckt, wie andere das machen. Nach etwa einem Jahr hatte sie einen festen Kundenstamm: Kaufhäuser, Apotheken usw. Die vielen Leute, die aus dem Osten kamen und einkauften "hinterließen" dort Ost-Geld. Irmchen holte dieses Geld dort zum richtigen, aktuellen Kurs ab, erhielt dann aber in der Wechselstube Prozente, weil diese Kunden ja sonst woanders getauscht hätten. Dasselbe galt auch sonst für Leute, die Geld tauschen wollten. Sie kam auf etwa 1000 DM-West im Monat, was damals viel war. Aber ohne ein Gewerbe angemeldet zu haben; um Steuerverrechnung kümmerte sie sich nicht... Wenn es an einer Wechselstube zu brenzlig wurde, wechselte sie, aber die Stammkunden blieben dieselben. In dieser Zeit lernte sie Willi Pachaly kennen, ihren späteren Lebenspartner - bis der Tod sie schied. Willi war bei der Kriminalpolizei und eigentlich ihr natürlicher Widerpart. Er war mit einem Kollegen unterwegs - und die beiden haben Irmchen einfach auf Verdacht aufgegriffen. Sie hatten sie nicht beim Tauschen erwischt, Willis Kollege sagte zu ihr: "Na, dann kommen Sie mal mit!" In die dicke Tasche mit dem vielen Geld hatten sie (noch) nicht geschaut. In der Wache war sie einen kurzen Moment allein, und schwupp, das kennen wir ja, war das Irmchen weg. Am nächsten Tag - sie betrachtete gerade die Auslagen eines Schaufensters - stand plötzlich Willi neben ihr. Irmchen entschuldigte sich „für gestern“. Das wars fürs erste.
Irmgards schwarzes GeldSie sahen sich dann immer wieder, aber auf Distanz, Willi war da immer nicht
allein, sondern mit einem Kollegen auf Streife. Man kannte sich, wechselte ein
paar Sätze. Willi verknallte sich in Irmchen... Dann trafen sie sich öfter...
und so weiter.
Jetzt begann eine... nicht gerade leichte Zeit. Sie konnte weder vor noch zurück, konnte weder nach Röntgental noch konnte sie sich in West Berlin frei bewegen. Willi war auch in der Zwickmühle; er hätte sie ja eigentlich verhaften müssen. Das tat er natürlich nicht, aber er schimpfte und meinte, sie solle erstens das überhaupt nicht machen und zweitens, sie solle sich stellen. Sie schliefen in Hotels und sonstwo - das war auf Dauer nicht auszuhalten. Und so hatte Willi mit seinem Drängen, sie solle sich stellen, endlich Erfolg. Sie rief die Polizei an und stellte sich. Daraufhin erschien wieder ein falscher Zeitungsbericht: „Gefaßt!“ - was ja nicht stimmte. Und überhaupt: als wäre sie die größte Schieberin Berlins! Die Szene wird sich die Hände gerieben haben ob solcher Ablenkungsmanöver. Klar - sie hatte es, wenn man den Fall für sich betrachtet, faustdick hinter den Ohren. Aber es war nur Schaumschlägerei um ein kleines Fischchen, damit die großen Haie ungestört ihre Geschäfte machen konnten.
Der neue NeuanfangIrmchen wurde also wieder einmal eingesperrt. Und Oma rüstete sich erneut zum Befreiungskampf, sogar mit Kopftuch. Der Richter kannte sie noch von ihren letzten Auftritten, er hatte das nicht gerne, war aber wohl auch nicht ganz ohne Humor, meinte, das sei alles halb so schlimm, so was sitze man auf einer Arschbacke ab; sie solle gehen. Kaum war sie draußen, war sie auch schon wieder drin. Auch das kannte er ja... Sie war ganz geknickt. In der Zeitung erschien ein Bild von ihr: Mit Kopftuch auf der Bank, ganz krumm, „völlig gebrochen.“ Mei, was für ne Geschichte! Irmchen musste etwa drei Wochen U-Haft absitzen, drei Wochen geheult und geheult. Der Richter kannte sie nun schon, schmunzelte. Das erste Mal hatte Irmchen auch vor dem Richter noch geheult, jetzt war sie schon etwas frech. Reporter knipsten sie. „Ich verbiete mir das!“ Bekam wieder drei Monate, aber diesmal auf Bewährung! Die Regel ist eigentlich umgekehrt: Das erste Mal "auf Bewährung", das zweite Mal, wenn überhaupt, "ohne"... Omas "Richtermassage" hatte wohl doch etwas Erfolg gehabt! Doch hatte dieses Urteil aus anderem Grund größeres Gewicht als das erste, wie schon geschildert. Ihr Fall war nun auch in DDR bekannt... Die Grenze zwischen Ost und Westberlin war noch viele Jahre offen, jeder konnte sie passieren - bis zum Mauerbau 1961. Es war ja auch "rechtlich" gesehen keine Grenze, sondern "eigentlich" nur eine "Demarkationslinie" zwischen den Sektoren: Des britischen, des amerikanischen, französischen und sowjetischen Sektors. Aber wir wissen alle ja, dass die "Linie" zwischen den Westsektoren und dem Ostsektor eine ganz andere Qualität hatte als die "Linien" zwischen den Westsektoren. Und für Irmchen nun ganz besonders... Sie fuhr nie mehr in ihrem Leben auf das Gebiet der DDR, nie mehr nach Ostberlin. Irmchen kam also nach drei Wochen aus dem Knast - und nun? Einen Zuzug nach Westberlin bekam man nur, wenn man Arbeit vorweisen konnte, und Arbeit wohl nur, wenn man befristeten Zuzug hatte. Ich muss das jetzt nicht genau klären, es ging jedenfalls nicht "einfach so". Ob es möglich gewesen wäre, einfach ein Gewerbe anzumelden, weiß ich nicht - aber auch da hätte sie wohl mindestens einen festen Wohnsitz vorweisen müssen. Wie auch immer, irgendwie klappte es am Ende. Zu Willi jedenfalls konnte sie nicht ziehen, er wohnte mit seinem Vater zusammen. Sie wohnte erst einmal zur Untermiete in der Zossener Straße 44, mindestens ein paar Jahre. Dort haben wir (Oma und ich) sie immer besucht...
"Wir haben Sie schon erwartet..."Fortan lebte ich also mit meiner Großmutter allein in Röntgental, ich bis 1961, Großmutter bis 1968. Wir also in der DDR, an der Grenze zu Berlin, Irmchen in Westberlin, in Kreuzberg. Mindestens einmal in der Woche besuchten wir sie. Ich erinnere mich an die ausgedehnten Spaziergänge in dieser Gegend: Mutti, Willi und ich - am Halleschen Ufer zum Beispiel. Die Heilig-Kreuz-Kirche kam auch sehr oft ins Blickfeld. Großmutter ging da wahrscheinlich nie mit, ich erinnere mich jedenfalls nicht. Irmchen blieb beim Ost-West-Handel, sie machte bald weiter wie bisher - nun allerdings legal. Die Nachkriegszeit war - in diesem Lebensbereich jedenfalls - vorbei. Ums bloße Überleben ging es ja auch nicht mehr; der Übergang vom "Überlebenskampf" zum normalen Leben bzw. zum "guten" Leben - der war fließend gewesen, das hatte sie nicht so richtig mitbekommen. Nun war - für sie - der Schnitt da. In der Nähe des S-Bahnhofes Gesundbrunnen, in der Stettiner Straße (geht von der Badstraße ab) war eine der Westberliner Wechselstuben. Inhaber war Herr Springer, nicht der Axel. Der Vorname ist mir nicht bekannt. Irmchen kannte ihn schon lange, geschäftlich. Sie ging zu ihm rein... Er begrüßte sie mit den Worten: "Ich habe sie schon erwartet" - Sie erzählte ihm alles (was er und alle anderen sowieso wussten)... Irmchen wollte Außendienst machen, weil sie schon die Kunden hatte... Springer drückte ihr sofort 2000 DM West in die Hand und meinte: „Damit können Sie arbeiten.“ Dann brachte er noch größere Geldscheine, die in Kleingeld umgetauscht werden sollten. Die Geschäfte haben damals alle Ostgeld angenommen, hatten aber Schwierigkeiten mit dem Wechselgeld, die Leuten kamen mit Hundert-Mark-Scheinen usw. Für Kleingebündeltes und sortiertes Ostgeld bekam sie extra Provision. Der Wiedereinstieg als solcher war sehr leicht. Sie wurde überall in gleicher oder ähnlicher Weise empfangen: "Wir haben Sie schon erwartet..." Springer führte sie als Geld-Botin nach Hamburg ein. Also ganz korrekt lief es nun auch nicht, fragt mich nicht wie, aber formal so, dass es als legal durchging. Schlechter verdiente Irmchen unter dem Schutz des Herrn Springer keineswegs, eher im Gegenteil - eher über 1000 DM, was, wie gesagt, damals relativ viel Geld war. Und Großmutter und mir ging es dabei auch gut - erstens, weil Großmutter von Irmchen regelmäßig Westgeld bekam, das sie bei Bedarf mindestens 1:4 (oder noch günstiger) in Ostgeld umtauschen konnte, zweitens, weil wir Waren in Westberlin kaufen konnten, ohne dass wir Ostgeld zum Kurs von 4:1 (oder noch ungünstiger) verrechnen mussten... ###Ost-West-Leben... außerdem besserte Großmutter ihre winzige Rente auch noch durch Pudelzucht auf. So ein kleines, reinrassiges Pudelknäuel konnte man für etwa 400 Ostmark verkaufen. Die ersten Bilder zeigen noch einmal die Idylle in Röntgental, als Pudelidylle. Auf dem ersten Bild meine Oma im Garten mit kleinen Pudeln, im Hintergrund der Klarapfelbaum.
Auf dem zweiten Bild Oma und Pudelchen mit Nachbarin, Mutter von Schulfreund Hans-Jürgen.
Ich kann hier nicht das Starfoto auslassen:
Die ganze Pudelvielfalt stammt von Assi ab. Auf dem linken Bild ist Assi aber selbst noch ein kleines Pudelchen, als sie sich dann mit meiner Katze Putzi vertrug. Putzi hatten wir schon in der Ahornallee. Damals war Irmchen mit mir nachts nach Hause gekommen, nahe der S-Bahn war eine Kaserne mit russischen Soldaten... von dort aus lief dieses Kätzchen mit uns zur Ahornallee. Wir ließen sie nicht ins Haus. Aber im Schlafzimmer war ein Fenster geöffnet... Als ich im Bett lag, merkte ich taps, taps - die Pfötchen auf der doch relativ dicken Bettdecke. Eigentlich "unmöglich", aber es war so... Putzi kam dann bald ums Leben. Jemand brachte eine Hälfte von ihr: Offenbar hatte ein Zug sie überfahren. Ich habe ein paar Tage geweint. An der rechten Seite des Hauses begraben. Das rechte Bild zeigt Assi mit einem ihrer Würfe. Assis voller, erlauchter Name: Assidy von Falkensee...
Tante Clara kam einmal zu Besuch. Ich erinnere mich vor allem daran, dass sie jeden Morgen barfuß im taunassen Gras herumlief, eine Angewohnheit, die ich 50 Jahre später "übernahm" Hier noch einmal ein Foto von Tante Clara, natürlich mit Pudelumrahmung:
Irmchem kam, solange die DDR existierte, nie mehr nach Ostberlin. Oma und
ich besuchten sie immer, oft auch jeweils allein, wie es passte. 1956, im Alter
von 14 Jahren, reiste ich mit Willi nach Grainau, Zugspitze usw. Willi konnte
damals noch durch die DDR fahren. Später nicht mehr: Bei einer versehentlichen
Fahrt nach Ostberlin, ich glaube, er war besoffen, nahm ihn die VoPo fest, die
Stasi mischte sich ein - und sie nötigten ihn, ein Papier zu unterschreiben, in
dem er sich zur Spionage verpflichtete. Er offenbarte dies dann sofort seinen
Vorgesetzen, damit war die Sache erledigt, jedenfalls im Westen. Auch er mied
dann zeitlebens Ostbelin und die DDR... Aber im Sommer 1956 fuhren wir zusammen
(irgendwie Mitfahrer in einem Auto) durch die DDR nach Bayern. An der der
"Grenze" der DDR gab es keine Probleme. Aber die Bayerischen Grenzer stellten
sich auf die Hinterfüße. Es dauerte mindestens eine habe Stunde, eh´ die mit
meinem DDR-Ausweis zurechtkamen. Verstehe ich bis heute nicht...
Die folgenden Bilder beschäftigen sich noch ein wenig mit der
Lederhose. Erstens dem Anhängsel, das auf dem Geburtsfoto leider nicht zu
sehen ist: Ein kleiner Kompass, den ich noch heute habe - und der noch
funktioniert! Im Gegensatz zu einem teuren Pfadfinderkompass, den ich vor
wenigen Jahren gekauft habe... Was mir weniger gefällt: der
kleine Kompass ist aus einem Hirschgeweih geschnitzt... Das Bild daneben
zeigt andere Erinnerungsstücken: Stadtwappen, die ich damals von Oma auf
meinen Campingbeutel nähen ließ (später abgetrennt und auf ein Stück Tuch
genäht). Außer von dieser Bayernreise (Stadtwappen München) stammen die
anderen Wappen von meinen Reisen in Städte der DDR, wo ich an Sportwettkämpfen
teilnahm. Und das Emblem vom SC-Einheit Berlin ist natürlich auch aufgenäht.
### Notbremse - und auf den Schienen zurückVon der Röntgentaler Pudelidylle nach Westberlin: Irmchen arbeitete jetzt
legal, aber ungefährlich war der Job deswegen noch lange nicht. Sie hatte meist
viel Geld in dieser dicken Tasche bei sich, die man auf dem folgenden Foto
sieht:
Die Tasche hob Irmchen auf. Als sie hier zu uns in dieses Haus zog, hatte sie die Tasche noch - sie verschimmelte im Keller. Aber zurück in jene Zeit, da in dieser Tasche Geld transportiert wurde. Einmal waren drei Männer und eine Frau hinter ihr her. Die Frau bekam dann offenbar den Auftrag, Irmchen zu verfolgen. Irmchen stieg aus der U-Bahn,huschte blitzschnell um eine Säule, durch eine gerade sich schließende Tür, in den abfahrenden Zug - sie sah noch, wie die Verfolgerin einen langen Hals machte und sie verzweifelt suchte. Ein anderes Mal wartete die Großmutter auf dem S-Bahnhof Gesundbrunnen auf sie (da bekam sie einmal im Monat 500 Mark Ost). Irmchen kam mit der S-Bahn von irgendwoher von der Arbeit und hatte deswegen die große Tasche mit Geld bei sich – schlief aber im Zug ein und verpasste es, in Gesundbrunnen auszusteigen. Gesundbrunnen, der letzte Bahnhof in Westberlin... „Was ist das da für eine Brücke?“ fragte sie schlaftrunken. Das war die Bornholmer Brücke, die Bösebrücke... Das folgende Bild ist von 2012, aus dem Internet, etwas aus der Vogelperspektive - man kann sich vorstellen, was Irmchen gesehen hat. Die Brücke markierte einen Grenzübergang (der später berühmt werden sollte...) - und unten, der S-Bahnhof Bornholmer Straße, der erste Bahnhof in Ostberlin. Die Brücke war Irmchen wohlbekannt, man sieht sie deutlich vom S-Bahnhof Gesundbrunnen aus...
Noch immer schlaftrunken, fragt sie in die Runde: „Fahren wir jetzt in den Osten?“ In der Tat, sie fuhren. Sie zog die Notbremse – eine Eisenbahnerin kam und fragte, wer das getan habe. Irmchen sagte, sie sei es gewesen. Die Eisenbahnerin verlangte, sie müsse bis zur nächsten Station mitfahren (also in den Osten, Bornholmer Straße). „Das will ich eben nicht.“ Als die Eisenbahnerin nun auf stur schaltete, stellten sich viele Leute schützend ums Irmchen; sie stieg aus (die Türen damals hatten Griffe: man konnte sie jederzeit öffnen) - und lief auf den Schienen zurück. Auch das war natürlich verboten... blieb aber ohne Konsequenzen. Westberliner Polizisten befragten Irmchen, was los sei – und schüttelten sich vor Lachen... Das hätte schiefgehen können. Das Ziehen der Notbremse war ein Reflex gewesen, verständlich, aber riskant; sie zog damit natürlich auch die Aufmerksamkeit auf sich... Dass ihr die Leute im Zug geholfen haben, war ihr Glück gewesen. "Einschlafen" war ein Thema, dass sie lebenslang begleitete, siehe auch "Episoden", Eine glückliche Zeit - mit Schatten"Es war glückliche Zeit", erzählte Irmchen. Sie meinte die Zeit, da sie Willi kennengelernt hatte. Wann das genau war, habe ich leider nicht notiert - wie ich jetzt feststellen muss. Das mittlere Bild - in ein Buch geschriebene Widmung - weist auf den ungefähren Rahmen: "In Erinnerung an schöne Stunden / In Freud und im Leid / mögen sein (?) unsere Herzen vereint / Dein Willi / Berlin, den 9.8. 1953." Sie kannten sich wahrscheinlich seit 1952, vielleicht seit dem 9. August 1952? Deswegen das Buch mit dieser Widmung?
Wann Muttis "Schnitt" genau war, ab wann sie nicht mehr in den Osten fahren konnte, spielt bei der Geschichte mit Willi nicht eine so große Rolle; die "spielte" ohnehin nur in Westberlin, wenn auch am Anfang Besuche in Röntgental stattfanden. Das Datum der Buchwidmung veranlasst mich aber zu eigenen Erinnerungen: Ich war 11 Jahre alt, und am Tag des (beinahe) Volksaufstands, am 17. Juni 1953, "hing" ich an der Goebbelschnauze" und hörte den RIAS, durchaus begreifend, was sich da politisch bewegte. Nach meiner Erinnerung war ich da gerade alleine zu Hause, und zwar noch in der Lindenallee. Das könnte auch tatsächlich stimmen. Auszug aus dem Grundbuch von Zepernick, Blatt 1535, angelegt am 10. 11. 1960: Neue Eigentümerin des unbebauten Grundstückes in der Ahornallee 23: "Witwe Frau Selma Sack geb. Scholz... aufgrund der Auflassung vom 23. September 1952, eingetragen am 1. April 1953." Wahrscheinlich hat der Bau des Häuschens unmittelbar danach begonnen... Und wenige Monate später konnten wir einziehen. Wie zuvor berichtet, konnte Irmchen dort nicht lange bleiben, wahrscheinlich nur wenige Wochen. Trotz dieses Schnittes also "ein glückliche Zeit", aber keineswegs ungetrübt, wie sich bald zeigen sollte. Irgendwann merkte sie, Willi schien ihr zu entgleiten. Und dann hatte sie auch noch einen Traum: Auf dem Tsch stand eine Schüssel mit Äpfeln - und einer wurde ihr geklaut... Sie fing an, Willis Wohnung (er wohnte noch bei seinem Vater) zu beobachten. Und siehe da, ein paar Häuser weiter - winkte er jemandem zu, so, wie ein Mann einer Frau zuwinkt... Danach hat sie dieses besagte Haus beobachtet. Und wieder - siehe da - der Aufwand "lohnte" sich: Willi ging dort hinein. Sie wartete... wartete, bis er wieder hinauskam. Sie stellte ihn zur Rede: „Wo kommst du denn her?“ „Da wohnt ein Briefmarkenhändler, mit dem habe ich Marken getauscht.“ Da hat Mutti ihm eins mit dem Knirps über den Kopf gehauen und ist weggelaufen.
... den Knopf verdrehtDie Geschichte hing ihr jahrelang an – der Schlag mit dem Knirps über Willis Kopf... Die Leute haben das beobachtet und erzählt, was Irmchen doch für eine rabiate Frau sei... Sie hat das besagte Haus im Auge behalten. Nicht lang - und sie sah, wie
Willi mit der Frau herauskam, ging auch mit ihr in seine Stammkneipe. Sie
stellte ihn zur Rede: "Entweder die oder ich!" Willi entschied sich
für Irmchen - mit Worten. Bald merkte sie, dass er sich von der anderen Frau
immer wieder um den Finger wickeln ließ. Sie zeigte ihm nun die kalte Schulter.
Sie wohnte, wie gesagt, in der Zossener Straße 44 zur Untermiete. An einem Tage
ging sie dort die Treppe hinunter, wusste, dass Willi unten stand, allerdings versteckt.
Er folgte ihr, kriegte sie aber nicht ein...
Sie kurvte um eine Litfass-Säule, sprang in die Straßenbahn. Bei der nächsten
Station stieg sie aus, lief in großem Bogen nach Hause und legte sich schlafen.
Willi stand indessen unten und wartete auf Irmchens vermeintliche Rückkehr...
und wartete die ganze Nacht... Aber weit gefehlt, oder vielleicht doch nicht so weit... Er wollte aber wohl auf zwei Hochzeiten tanzen. Irmchen blieb misstrauisch, wollte nun die Entscheidung. Es war Abend, die Frau verließ das besagte Haus - und ging in Willis Stammkneipe. Und sie setzte sich zu Willi... Sie saßen am Fenster, Irmchen konnte ein wenig lauschen. Er sagte, er müsse nach Hause zu seiner Frau... Es gelang ihr aber, ihn zu überreden, mit ihr Essen zu gehen, in ein Esslokal. Irmchen schlich den beiden hinterher; sie war unschlüssig. Was sollte sie tun? Einige Männer sprachen sie an. Dann, als ein großer, gut aussehender Mann sie ansprach, ein Bildreporter mit den entsprechenden Apparaturen um die Schulter - hatte sie die zündende Idee. Willi war relativ klein, immer eifersüchtig auf große Männer... Sie käme mit, sagte sie, wolle aber selber zahlen. "Mein Mann sitzt da drin mit einer anderen Frau, ich möchte ihn eifersüchtig machen..." Der Reporter willigte ein. "Wir also rein", erzählt Irmchen. "Die Frau bei Willi hat ihm was gesagt. Er dreht sich um, Mund halboffen, der Bissen fiel raus... Ich sah nicht hin, nur aus den Augenwinkeln, sollte aussehen, als ob ich ihn nicht sehe...". Sie tranken nur etwas. "Jetzt können Sie den Arm um mich legen", sagte sie dann. Sie schob ihm das Geld rüber zum Bezahlen, dann gingen sie raus. Willi kam hinterher, stand vor den beiden, drehte Irmchen den Knopf von der Jacke, sagte immer wieder. „Das ist meine Frau...“ Irmchen: „Geh du doch zu deiner Frau da drin...“ - und zu dem Reporter sagte sie: „Also wir treffen uns dann wie verabredet..."
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Zeitsprung: Zwei Fotos von Irmchen, die ich zwischen Briefen aus der Zeit 1961 bis 1965 fand... |
Das zweite Foto aus jener Zeit... |
Wird fortgesetzt